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Wappen der Familie Krüger aus Thorn

Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger

Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Die Weichsel

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Und mit diesem Zeichen macht der Herausgeber dieses Dokuments auf Fragen auf-
merksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.


Die Geschichte jener Anna Krüger beeindruckte mich am stärksten. Vielleicht erzählte sie mein Vater so häufig, weil sie seinem eigentlichen Wesenskern entsprach. Möglicherweise hatte er aber auch pädagogische Gründe. Welcher junge Mensch weiß das schon?

20. März 1786. Johann Krüger, Annas Mann, war am 25. Februar 1778 im Alter von sechsundsechzig Jahren gestorben. Annas Sohn Joachim war damals neununddreißig Jahre alt und mit Christine, geborene Knof, verheiratet. Joachim bewirtschaftete mit seiner tüchtigen Frau seit einigen Jahren seinen Hof. Anna half als Altenteilerin im Haushalt so gut sie konnte. Im Frühjahr hatte die Sonne schon Anfang März den Schnee im Gebirge weggetaut. Eine große Hochwasserwelle ergoß sich daraufhin in die Weichsel und wälzte sich stromabwärts. Auf den lehmigen Wassermassen schwammen Bäume, Sträucher, Holzzäune, Hundehütten und sogar Teile von zusammengefallenen polnischen Bauernkaten. Das Haus, in dem Anna mit ihrer großen Familie lebte, befand sich im Gursker Angewachs. Anna konnte von dort aus den Kirchturm sehen. Die Weichsel hatte hier im Laufe von Jahrhunderten durch Ablagerungen [31] fruchtbaren Boden entstehen lassen, der vorwiegend mit Wiesen und Weiden landwirtschaftlich genutzt wurde. Gottlob stand das Haus, in dem Anna wohnte, auf einem hohen Hügel. Das Hochwasser hatte manchmal den Hofplatz erreicht, aber niemals seit Menschengedenken das Wohnhaus überflutet. In diesem Frühjahr war es wie verhext. Der Wasserspiegel stieg immer weiter an. Die Stallungen mußten vorsorglich geräumt und das Vieh unter der Anleitung von Joachim auf den Hedberg getrieben werden. Hier war es in Sicherheit. Annas Schwiegertochter war mit dem Vieh mitgegangen, um ihrem Mann beim Füttern und beim Melken zu helfen. Sie hatte ihren ältesten Sohn Joachim, der acht Jahre alt war, und eine ein Jahr jüngere Tochter in der Obhut ihrer Großmutter zurückgelassen. Für den Notfall stand auf ihrem Hof ein Boot bereit. Es wurde in jedem Jahr vorsorglich geteert, war wasserdicht und jederzeit fahrbereit. Die Weichsel stieg von Stunde zu Stunde weiter an. Das Hochwasser überflutete den Hof, die Ställe und floß schließlich langsam in den Hausflur hinein. Anna nahm die beiden Enkel kurz entschlossen bei der Hand, stürzte mit ihnen auf den Hof, wo das Boot bereits auf den Wellen schaukelte. Sie trug die beiden Kinder durch das Wasser, setzte sie in das Boot und ruderte mit kräftigen Schlägen vom Hof herunter. Zwischen Tor und dem Weichseldamm hatte sich eine reißende Strömung gebildet, der Anna nur ihre schwachen Kräfte entgegensetzen konnte. Auch die erlahmten bald. Das Boot wurde mit den drei verängstigten Insassen mit rasender Geschwindigkeit stromabwärts abgetrieben. Einer Familienlegende folgend soll Anna die beiden Kinder gerettet haben, indem sie sie mit letzter Kraft auf die Äste eines Baumes gesetzt habe, die noch nicht überflutet waren. Das Boot sei dabei gekentert und unsere Vorfahrin ertrunken.

Vor mir liegt ein Auszug aus dem Totenbuch der Kirche in Gurske mit der nüchternen, amtlich beglaubigten Eintragung: "1786 den 28. März ist die tugendsame Frau Anna, geborene Hoffmann, des weyland Johann Krüger nachgelassene Witwe, Mitnachbarin in Gurske beigesetzt worden. Sie hat bei der [32] Überschwemmung in den Fluthen ihr Ende gefunden und hat ihr Leben gebracht auf siebenundsechzig Jahre. Sie ist von sechs Söhnen und vier Töchtern Mutter und vierundzwanzig Enkeln Großmutter worden. Gedächtnispredigt bekam sie am 23. April." Sie hatte der beliebte Pfarrer Liebelt gehalten. Er ist Autor von zwei heute noch lesenswerten Büchern: "Predigten zur Förderung der häuslichen Frömmigkeit besonders unter Landleuten" und "Jubel- und Gedächtnispredigt bei der einhundertjährigen Jubelfeier der Gursker Kirche".

Doch zurück zu der Überschwemmung, bei der Anna ertrunken war. Die Weichsel war so hoch angestiegen, daß der Damm an zwei Stellen brach. Die eine war ganz in der Nähe des Hofes meiner Vorfahren in Gurske, die zweite etwa zwei Kilometer stromaufwärts in Altthorn. Unter den Folgen hatten vier Bauernhöfe meiner Vorfahren lange zu leiden. Das Wasser war mit einer so großen Gewalt durch die Bruchstellen hindurchgeströmt, daß es die Erde im Binnenland bis achtzehn Meter tief ausgespült hatte. Dadurch waren zwei Seen entstanden, die im Volksmund Ausbrüche hießen. Sie sind heute noch fischreiche große Teiche. Bis 1945 gehörte der Ausbruch in Altthorn meinem Vetter Herbert Goerz. Es war der Badesee meiner Familie bis zu unserer Flucht. Ich habe in ihm Hechte geangelt und bin auf ihm Schlittschuh gelaufen.

Anna Krügers Tod in den Fluten verdanken wir eine weitere Information über das ökonomische System der Landbewirtschaftung, das in der Niederung bis zu der preußischen Agrarreform bestanden hatte. Wenn die Weichselüberschwemmung und die Dammbrüche 1786 nicht stattgefunden hätten, wären sie uns vermutlich verborgen geblieben. Meine Vorfahren waren Erbpächter, ich hatte es mehrfach erwähnt. Nun sollte man vermuten, daß mit der jährlichen Zinszahlung die finanziellen Verpflichtungen der Stadt gegenüber erfüllt gewesen wären. Das war leider nicht so, denn offensichtlich wollte die Kämmerei einen höheren Gewinn herauswirtschaften als die vier bis fünf Prozent Zinsen. Die Grundherrschaft, in unserem Falle die Kämmerei, beschloß daraufhin im Einvernehmen mit dem Stadtrat, für alle Dörfer und Güter ein Ein[33]kaufsgeld zu erheben. So einfach können in einem kameralistischen System die Einnahmen gesteigert werden. Die Einkaufssumme, die von Thorn zum Ende des 18. Jahrhundert erhoben wurde, war doppelt so hoch wie der jährliche Pachtzins. Das erschien meinen Vorfahren und allen ihren Nachbarn in Altthorn und Gurske untragbar zu sein. Sie hatten immer noch persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen zum Stadtrat, was sie dazu ermutigte, gegen dessen Forderungen etwas zu unternehmen. Sie dachten auch ökonomisch, aber eben nicht für den Stadtsäckel, sondern zugunsten der eigenen Familie. Als dann noch die große Weichselüberschwemmung zu erheblichen Schäden an den Gebäuden und die beiden Dammbrüche zur Versandung von Äckern, Wiesen und Weiden geführt hatten, richteten meine Vorfahren ein Gesuch an den Stadtrat, in den sie darum baten, ihnen die Einkaufssumme zu erlassen. Ob sie damit erfolgreich waren, ist in keiner Quelle überliefert. Jedenfalls waren sie keine Duckmäuser. Sie hatten sich mit den rechtlichen Mitteln, die ihnen das System einräumte, zur Wehr gesetzt.


 
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letzte Aktualisierung: 30.08.2007