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Rathausturm mit Copernicus-Denkmal

Horst Ernst Krüger

Die Geschichte zweier Thorner Niederungsdörfer



THORN - Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Thorn, S. 35ff
Horst Ernst Krüger [Hrsg.]
Hannover 1981

Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text Unter national-polnischer Herrschaft

Die Zahl in blauer eckiger Klammer, z.B.: [23], bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.

[45] Der erste Weltkrieg hatte den Höfen die Männer entzogen. Die Frauen, die Alten und die ganz Jungen, mußten bei Bestellung, Ernte und in der Viehhaltung mit Hand anlegen. Wieviele Männer nicht zurückgekommen waren, war auf der großen Holztafel in der Gursker evangelischen Kirche bis 1945 zu lesen gewesen. In schwarzen Buchstaben auf weißem Grund waren fast alle Familiennamen zu finden. Von manchem Hof sind der Vater und zwei Söhne oder gar drei auf dem "Felde der Ehre" geblieben. Diejenigen, die als entlassene Soldaten in die Heimat zurückkamen, fanden nach viereinhalb Jahren Krieg zurückgeworfene Höfe vor. Es fehlte an Düngemitteln, an Material für die Instandhaltung der Gebäude und an Maschinen. Die Viehbestände waren dezimiert. Viele Arbeiten, die in Kriegszeiten, liegengeblieben waren, harrten der Erledigung durch die Heimgekehrten. Den Waffenrock in den Schrank hängen, den Arbeitsanzug anziehen, die Ärmel aufkrempeln und in Ruhe und Frieden an die Arbeit gehen, danach war ihnen zumute. Die Politiker wollten es aber anders.

[46] Das polnische Volk hatte nach Auflösung seines Staates fast 150 Jahre unter fremder Herrschaft und im Exil seine Sprache und seine Nationalität in bewundernswerter Weise gewahrt. Jetzt, nachdem für die Mittelmächte - Deutschland und Österreich verlorenen Krieg, errichtete die Entente unter Führung der USA und Frankreichs den polnischen Nationalstaat. Sie verwirklichten damit einen polnischen Traum, der durch die Erinnerung an das alte Königreich wachgehalten worden ist. Die siegreiche Koalition teilte im Friedensvertrag von Versailles der wiederentstandenen Republik Polen ein willkürlich abgegrenztes Territorium zu und verlieh ihr darin staatliche Souveränität. Sie hatte dadurch einen großen polnischen Nationalstaat mit einem Grenzverlauf geschaffen, der weder historischen, noch ethnischen, noch wirtschaftlichen Gesichtspunkten entsprach. Die Siegermächte hatten im Hinblick auf das Verhältnis des neuen Staates zu allen Nachbarstaaten eine Situation geschaffen, die auf die Dauer zu Konflikten führen mußte. Nur eine kluge und maßvolle den Ausgleich suchende Politik hätte einen solchen Staat durch alle Gefahren hindurchsteuern können. Außerdem war der neue polnische Nationalstaat in seiner Innenpolitik durch große völkische Minderheiten belastet. Die deutsche Volksgruppe zählte allein in Posen und Westpreußen 1,2 Millionen Menschen. Rechnet man die Deutschen hinzu, die in anderen Gebieten des wiederentstandenen Polens ansässig waren, so betrug diese Minderheit allein 2,1 Millionen Menschen, eine Bevölkerungszahl, die andern Orts in Europa bereits ausreichte, einen eigenen Staat zu schaffen. Nach einer polnischen Volkszählung von 1921 befanden sich in der Republik Polen 69,2 Prozent Einwohner polnischer und 30,8 Prozent fremder Nationalität. Andere Quellen berichten von fast 40 Prozent Angehörigen der deutschen, weißrussischen, ukrainischen, litauischen und jüdischen Volksgruppen. Die Minderheitenfrage wurde daher zu einem zentralen Problem der von den Entente-Mächten betriebenen Polenpolitik. Die "Schicksalsmacher" jener Zeit, der Reisediplomat und Pianist Paderewski, der englische Premier Lloyd Georges, der französische Ministerpräsident Clemenceau und vor allem Thomas Woodrow Wilson, der nordamerikanische Präsident, diktierten die Bedingungen. Die Menschen der betroffenen Gebiete, so auch die Bewohner unserer Niederungsdörfer, erlebten das politische Geschehen passiv. Sie lasen in den Zeitungen, was die Politiker beschlossen hatten. Was ihnen blieb, war der Besuch von Protestversammlungen in Thorn gegen den Anschluß an Polen. Deutschland aber, ihr Vaterland, versank im Chaos der Novemberrevolution 1918. In Thorn etablierte sich ein deutscher und ein polnischer Arbeiter- und Soldatenrat, die anfangs vernünftig zusammen arbeiteten. Aber schon im Januar 1919 wehte entgegen den Waffenstillstandsbedingungen auf dem Rathaus in Thorn neben der deutschen auch die polnische Fahne. Etwas entscheiden konnten nur die großen Siegermächte: Paris, London, Washington. Hier wurden von den Staatsmännern Ideen für die Neuordnung Osteuropas entworfen. [47] Wilson vertrat mit seinen 14 Punkten hohe Grundsätze: Die nationalen Bestrebungen in Europa sollten in der Friedensordnung voll befriedigt werden, die Selbstbestimmung der Völker ein Prinzip des politischen Handelns sein. Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail: Polen sollte einen Zugang zum Meer erhalten. Rechts und links der unteren Weichsel von Thorn bis Danzig siedelten seit Jahrhunderten deutsche Bauern, deren Vorfahren als Pioniere das Land urbar gemacht hatten. Ihre nationalen Bestrebungen und ihr Selbst-bestimmungsrecht wurde im Friedensvertrag von Versailles nicht beachtet. Im Korridorgebiet wurden sechzehn Kreise ohne Bestätigung durch eine Volksabstimmung dem polnischen Staatsgebiet zugeschlagen; dazu gehörte auch der Kreis Thorn und damit unsere Niederungsdörfer. Wie es in Westpreußen Kreise mit rein deutscher Bevölkerung gab, hatten sich über die preußische Zeit hinweg im Süden rein polnische Dörfer erhalten. Im Norden waren die Kaschuben ansässig, die sich weder als Polen noch als Deutsche fühlten. Völkischnationale Selbstbestimmung in einem Gebiet zu verwirklichen, in dem Deutsche, Polen und Kaschuben, Evangelische und Katholiken zusammenwohnen und in dem die Siedlungskarte einem Leopardenfell ähnelt, ist einem zentralistischen Nationalstaat unmöglich. Polen sollte das Wagnis eingehen, der Versailler Friedensvertrag wollte es so.

In mehreren Artikeln dieses Friedensvertrages, in Minderheitenschutzab-kommen und in der polnischen Verfassung, finden sich wesentliche Regelungen zum Schutz der Minderheiten. Es mag für die Niederungsbauern beruhigend gewesen sein, als sie in den Zeitungen von der Unterzeichnung des Minderheitenschutzvertrages durch Polen vom 28. Juni 1919 lasen. Die neugebildete Republik verpflichtete sich mit dieser Unterschrift, allen Staats-bürgern ohne Unterschied der Rasse, Sprache und Religion den gleichen Schutz der Freiheit, der politischen Rechte, insbesondere auf die Zulassung zu öffentlichen Ämtern und die Ausübung der verschiedenen Berufe und Gewerbe zu gewähren. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kontrahenten dieses Vertrages, d.h. dem Genfer Völkerbundsrat und Polen, sollte der Schiedsgerichtshof in Den Haag entscheiden.

Unsere Bauern in den Niederungsdörfern lasen in den Zeitungen, daß wesentliche Bestimmungen des Minderheitenschutzvertrages in die polnische Verfassung aufgenommen worden waren. Artikel 109 der staatlichen Grundordnung lautete: Jeder Bürger hat das Recht, seine Nationalität zu bewahren und seine Sprache und nationalen Eigentümlichkeiten zu pflegen. Besondere staatliche Gesetze sichern den Minderheiten im polnischen Staat die volle Entwicklung des nationalen Charakters, mit Hilfe von autonomen öffentlich-rechtlichen Körperschaften im Rahmen der Verbände der allgemeinen Selbstverwaltung... Die polnischen Staatsbürger, die zu nationalen, konfessionellen oder sprachlichen Minderheiten gehören, haben in gleicher Weise wie die anderen Bürger das Recht zur Gründung, Beaufsichtigung und Verwaltung von Wohltätigkeits-, religiösen und sozialen Anstalten, Schulen und anderen Erziehungsanstalten auf ihre eigenen Kosten sowie zum freien [48] Gebrauch ihrer Sprache und zur freien Religionsausübung in diesen.

Die unterschriebenen Verträge und Texte der Paragraphen sind eine Seite der Medaille, die gelebte Wirklichkeit ist die andere. Wir werden sehen, wie es kommen wird, dachten die deutschen Bauern aus unseren Niederungsdörfern. Daß nicht gute Zeiten bevorstanden, wußten sie. Welchen politischen Pressionen sie ausgesetzt sein würden, konnten sie nicht ahnen. Wir lassen polnische Politiker zu Wort kommen, die sich über ihre Vorstellungen zur Rolle der deutschen Minderheit in den Westprovinzen äußerten und zitierten Dokumente von durchgeführten Verwaltungsmaßnahmen. Nur auf diese Weise ist es möglich, ein objektives Bild zu zeichnen, das von allen emotionalen Eintrübungen frei ist.

Im Oktober 1919 sagte der spätere polnische Kultusminister Stanislaw Grabski auf einer großen Versammlung des nationaldemokratischen Landesverbandes Posen:

eine andere Liebe für die Landsleute und eine andere Liebe für die Fremden; ihr Prozentsatz bei uns ist entschieden zu groß. Posen kann uns einen Weg weisen, in welcher Weise der Prozentsatz von 14 auf 1,5 Prozent gebracht werden kann. Das Fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es sich anderswo besser befindet. Das polnische Land ausschließlich für die Polen. Der polnische Staat hat in den Jahren 1919 bis 1924 eine Reihe von Gesetzen erlassen, die formal die Bedingungen des Versailler Vertrages und des Minderheitenschutzvertrages zu erfüllen schienen , in der praktischen Anwendung aber im Sinne des Grabski-Zitates gehandhabt wurden. Dazu gehörte das Annulationsgesetz vom 14. Juli 1919. Es hob alle Kauf- und Pachtverträge zwischen dem preußischen Staat und Privatpersonen auf, soweit diese nicht vor dem 11. November 1918 grundbuchamtlich eingetragen waren. In die Verträge trat der polnische Staat ein. Das Annulationsgesetz zeigte seinen wahren Sinn später und erwies sich als gegen die deutschen Ansiedler und Domänenpächter gerichtet. Viele Siedler, die ihr Land unter dem bis 1919 geltenden deutschen Recht gegen Zahlung einer Geldrente vom Staat in Erbpacht behalten sollten, waren noch einfache Pächter mit Anwartschaft auf einen Rentenvertrag ohne Grundbucheintragung. Das Annulationsgesetz gab den polnischen Behörden die Möglichkeit, durch Kündigung der Pachtverträge die Rentenanwartschaft zu löschen.

Bei einem nur zwei Minuten dauernden Empfang einer Abordnung deutscher Domänenpächter sagte Ministerpräsident Witos in Warschau : Dies ist der erste Vorstoß gegen die deutsche Intelligenz und es ist höchste Zeit, daß die sogenannten deutschen Kulturträger verschwinden. Wer wollte es dem polnischen Staat verübeln, wenn er seinen Domänenbesitz Pächtern polnischer Nationalität übertragen wollte? Es war jedoch unmenschliche Härte, laufende Pachtverträge zum 1 - Juli 1921 kurzfristig zu kündigen und den deutschen Domänenpächtern ohne Entschädigung für das zurückgelassene tote und lebende Inventar den Stuhl vor die Tür zu setzen. In einem Staat mit dem Anspruch eines Rechtsstaates bleiben alle geschlossenen Ver[49]träge bis zu ihrem Ablauf in Kraft. Gegen diesen Grundsatz wurde in der ver-waltungsmäßigen Durchführung des Annulationsgesetzes verstoßen. Im April 1923 sagte Ministerpräsident Sikorski in einer programmatischen Rede vor dem Posener Rathaus: Der Prozeß, den man Entdeutschung der westlichen Wojewodschaften nennt, muß in einem möglichst kurzen Zeitraum und mit raschem Tempo vor sich gehen. Der Starke hat immer recht. Polen muß sich im Westgebiet konsolidieren und das Schwanken der polnischen Politik in der Liquidationsfrage muß radikal geändert werden. Die deutschen Optanten müssen die Konsequenz aus ihrer Option ziehen, d.h. abwandern. Diese Aktion wird meine Regierung im Laufe des Jahres durchführen. In Ihrem Interesse liegt es, daß der große historische Prozeß der Entdeutschung der westlichen Wojewodschaften sich in möglichst kurzer Zeit vollzieht. Das nach außen im Einklang mit dem Minderheitenschutzvertrag stehende Gesetz über das Recht, für Deutschland zu optieren, vom 20. Januar 1920 erwies sich als beispielloser politischer Hinterhalt. Die Möglichkeit für Deutschland zu optieren, hieß zunächst nichts weiter als nicht polnischer Staatsbürger zu werden, keine Wehrdienstpflicht - das in einer Zeit, da drei Monate nach Erlaß des Gesetzes der polnisch-sowjetrussische Kriegausbruch - Rechtsschutz durch das Deutsche Reich, vertreten durch das Konsulat in Thorn. Niemand konnte voraussehen, welche Folgen für die deutschen Staatsangehörigen daraus erwachsen würden. In Alt-Thorn hat kein Bauer und kein Hofnachfolger optiert, in Gurske jedoch die Bauernsöhne Ernst und Helmut Marohn, Willi Knodel und Max Heise. Von den Führern der deutschen Minderheit wurden die Gefahren des Staatsbürgergesetzes erkannt. Mit dem polnischen Staatsbürgerrecht, auf das die Optanten verzichteten, ging ihnen die wirtschaftliche und bürgerliche Gleichberechtigung verloren. Sie wanderten deswegen freiwillig aus oder wurden nach der Rede von Sikorski ausgewiesen, der die angekündigte Aktion später auch durchführte. Es wurde beklemmend ruhig in den deutschen Dörfern des Culmerlandes. Die erwachsene Jugend verschwand von den Höfen, in den Dörfern wurde die Alterspyramide von Jahr zu Jahr ungünstiger. Am 26. November 1924 sagte der neue Innenminister Ratajski bei einer Pressekonferenz mit polnischen Journalisten. Ich bin ein Mann des hiesigen Landes, ich kenne die Deutschen, ihre Tendenzen und Methoden und bin mir klar über die große Gefahr, die uns von ihrer Seite droht . . . Ich verstehe daher ausgezeichnet, daß jeder Deutsche, den wir nur irgendwie loswerden können, Polen verlassen muß. Dabei halfen das Gesetz über die Liquidation, das Agrarreformgesetz und als letztes Glied der Kette, die Grenzzonenverordnung. Letztere ermöglichte den polnischen Behörden, jeden Einwohner eines 30 km breiten Grenzstreifens zwangsweise auszusiedeln. Fast das gesamte Korridorgebiet war als Grenzzone [50] zu deklarieren. Auch ein Teil des Culmerlandes, so die Kreise Straßburg und Briesen, waren betroffen. Die Thorner Weichselniederung lag jedoch glücklicherweise außerhalb des Grenzzonengebietes. Das Gesetz über die Liquidation des Besitzes deutscher Staatsbürger vom 15. Juli 1920 wurde im Zusammenhang mit dem Staatsbürgergesetz angewendet. Polnischer Staatsbürger konnte nur derjenige werden, der vor dem 1. Januar 1918 seinen ständigen Wohnsitz in dem Gebiet hatte, das jetzt zu Polen gehörte. Die Behörden waren darum bemüht, möglichst viele Landwirte zur Option für Deutschland zu bewegen, um damit Grund und Boden von den eigens dafür gebildeten Liquidationsämtern aufkaufen zu lassen. Die Aufklärung über die wahren Folgen der Option durch die Vertreter der deutschen Volksgruppe war verboten. Das gesetzlich geregelte Liquidationsverfahren wirkte im Sinne der polnischen Entdeutschungspolitik und wäre als Hebelarm der polnischen Minderheitenpolitik noch viel wirksamer gewesen, hätte der Staat über große finanzielle Mittel verfügen können. Immerhin mußte der Verkehrswert des liquidierten Besitzes erstattet werden.

Das Agrarreformgesetz vom 28. Dezember 1925 ging viel weiter als dessen Vorläufer, das am gleichen Tag wie das Liquidationsgesetz verabschiedet worden war. Die landwirtschaftlichen Großbetriebe konnten daraufhin bis auf 180 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche - Obstgärten, Wege, Fischteiche sogar bis auf 3 ha und Wald bis auf 30 ha enteignet werden. Die Entschädigung für das abgegebene Land erfolgte zu 20 Prozent in bar und zu 80 Prozent in staatlichen Schuldverschreibungen, die mit 3 Prozent verzinst wurden, aber nur zu 50 Prozent des Nennwertes verkauft werden konnten. Wurden in der Folgezeit deutsche Güter parzelliert, so wurden nur polnische Siedler angesetzt. Sie waren teilweise Landarbeiter auf dem betreffenden Großbetrieb, in der weit überwiegenden Zahl aber Zwergbauern aus Mittelpolen. Sie wurden auf ihren kleinen sogenannten "Ponia-towskis" von 2 bis 10 ha meistens nicht glücklich, weil die Hofstellen keine ausreichende Existenzgrundlage darstellten. Die Niederungsbauern zogen den Kopf ein, ihre politische Lage konnte kaum noch schlechter werden. Der Staat trieb eine Minderheitenpolitik, die gegen sie gerichtet war. Die Gesetze griffen bei ihnen jedoch nicht in dem Maße durch wie bei den Gutsbetrieben, den Domänenpächtern und den preußischen Ansiedlern. Annullierung, Liquidation, Agrarreform trafen sie nicht; aber das Staatsbürgerge-setz machte ihnen zu schaffen. Ihre ersten Vorfahren in den Weichselniederungen bis hin zum Danziger Werder, die Pioniere aus dem Westen, waren Deutsche und Holländer. Im alten Polen und in der preußischen Zeit sind sie deutsch geblieben. Warum, so fragte sich jeder, soll ich jetzt polnischer Staatsbürger werden, wechsle ich damit nicht meine Nationalität? Der Begriff des Volksdeutschen war damals noch nicht erfunden worden. Die Vernunft siegte über das Gefühl. Sie optierten nicht, wurden polnische Staatsbürger, gingen nicht in die Liquidationsfalle und nahmen es auf sich, ihre Söhne polnische Soldaten werden zu lassen.

[51] Als Auslandsdeutsche in einem Staat, der ihnen feindlich entgegentrat, loyale Bürger zu sein, mußten sie erst lernen. Sie hatten zwar früher davon gehört und gelesen, wie ihre polnischen Mitbürger in Preußen und öfter noch hinter der nahen kongreßpolnischen Grenze gegen Rußland gerichtete Aufstände gemacht hatten. Sie konnten das nie verstehen, denn für sie selbst kam immer nur die Pflichterfüllung dem Staat gegenüber in Frage, in dem sie lebten. Der Staat war Preußen und Preußen war wie sie in kultureller Hinsicht protestantisch-deutsch orientiert. Dies war ihre Tradition. Sie hätten die loyale Haltung auch dem polnischen Staat gegenüber eingenommen, wenn er ihre Rechte und ihre Freiheit geschützt hätte. Sollen die neuen politischen Schicksalsmacher ihre Reden halten. Zu einem aktiven Widerstand waren sie nur bereit, wenn ihr nationales Empfinden, wenn ihre Tradition, wenn ihr evangelischer Glaube, wenn ihre Heimat unmittelbar bedroht wurden. Als Bauern lag ihre Heimat in Sichtweite der Gursker Kirchturmspitze. Im übrigen hatten sie auf ihren durch viereinhalb Jahre Krieg vernachlässigten Höfen genug andere Sorgen.

Die polnische Republik, dies Lieblingskind der Ententemächte, hatte ihre Minderheitenpolitik formuliert und den Betroffenen vorbuchstabiert. Daran sollte sich, solange diese Republik bestand, nichts Wesentliches mehr ändern. Die Polen hatten es sich in den Kopf gesetzt, einen lupenreinen Nationalstaat aufzubauen, dabei ihre Kräfte überschätzt und schließlich die Sympathien der Siegermächte verspielt, derer sie sich so absolut für alle Zeiten sicher glaubten. Was sie an Verbündeten behielten, war nicht der Rede wert.

Frankreich hielt im Völkerbund zur Stange, zog sich aber so schnell es konnte aus seinen Beistandsverpflichtungen gegenüber Polen soweit wie nur möglich zurück, lieferte im übrigen veraltete schlechte Waffen, alten guten Wein und betrachtete Josef Pilsudski als seinen Säbel gegen Rußland, und an zweiter Stelle auch gegen Deutschland.

England stand von Anfang an dem polnischen Experiment als protestantische Macht skeptisch gegenüber. Deutschland, das sich unter preußischer Führung zur kontinental-europäischen Vormacht entwickelt hatte, vom Osten her etwas am Zeuge zu flicken - das ja. Als die Polen den Vorschlag machten, 2,1 Millionen protestantische Deutsche unter die Autorität eines katholischen Volkes zu bringen, das im Laufe der Geschichte noch nicht so recht den Beweis erbracht hatte, sich selbst regieren zu können, ging das Lloyd Georges zu weit. Würde England dann die Kontrolle über Krieg und Frieden in Osteuropa behalten? Die Befürchtungen waren begründet und haben England auf zunehmende Distanz gebracht.

Die USA waren der osteuropäischen Querelen leid, als sie sahen, wie ihre hohen Grundsätze von der Selbstbestimmung der Völker, der Demokratie und dem Minderheitenschutz mit Füßen getreten wurden. In der öffentlichen Meinung der drei westlichen Siegervölker gewann mit zunehmender Brutalisierung der polnischen Innenpolitik die deutsche Minderheit immer mehr an [52] Sympathien. Es wurden Zweifel laut, ob wohl die polnische Westgrenze richtig gezogen sei, ob der Freistaat Danzig, ob der Korridor und ob das isolierte Ostpreußen tragfähige Lösungen seien.

Stresemann konnte im Völkerbund neue Gedanken entwickeln, die, soweit er die Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, insbesondere mit dem französischen Volk vertrat, auf fruchtbaren Boden fielen. Pilsudsky träumte nicht erst nach seinem Staatstreich 1926 von einer osteuropäischen Föderation aller Völker, die auf dem polnischen Staatsgebiet siedelten, nach dem Vorbild der österreichisch-ungarischen Monarchie. War es Täuschung, war es Weitsicht, war es politische Taktik des autoritären Marschalls? Sein Vorschlag wurde von allen taktvoll überhört. Er hatte, wie er einmal bekannte, das Chaos durchwatet, ehe er die Polen, die unter russischer, preußisch-deutscher und österreichischer Verwaltung standen, bei denen diese Mächte tief eingeprägte Spuren hinterlassen haben, zu einem eigenen Staatsbewußtsein zwang. Jetzt mußte er nach innen mäßigen, um einen Ausgleich nach außen finden zu können. - Der Nationalismus wirkte auf sein Volk wie eine Droge. Auch eine Persönlichkeit wie Pilsudski konnte und wollte vielleicht auch nicht die Entziehungskur bis zum Ende durchführen. Ohne den Einfluß der Droge hätte Polen nicht zu einem einheitlichen Staatsgefühl zurückgefunden. Deswegen blieben alle Bemühungen, Pilsudskis um den polnisch-deutschen Ausgleich, der Voraussetzung einer osteuropäischen Föderation gewesen wäre, für die beteiligten Staaten und Völker wenig überzeugend. Für unsere Bauern in den Niederungsdörfern war es nicht mehr als ein vager Hoffnungsschimmer, der aber doch von großer Bedeutung war, weil er das Ausharren in der Heimat überhaupt möglich machte.

Der Druck der gesellschaftlichen Kräfte und der öffentlichen Meinung, die sich im "Slowo pomorskie" in Thorn manifestierte, wurde für sie von Jahr zu Jahr schwerer. Die Pilsudski-Administration ließ sich einiges einfallen, den erbitterten Volkstumskampf mit den verschiedensten Mitteln der Verwaltung zu intensivieren. Das polnische Verordnungsblatt vom 15. Februar 1929 veröffentlichte die Namensliste der für die Agrarreform im laufenden Jahr vorgesehenen Flächen. Die im neuen Jahresplan angekündigte Enteignung in den ehemals preußischen Teilgebieten betraf in über 92 Prozent deutschen Grundbesitz. Die "Deutsche Rundschau"' in Bromberg kommentierte das adininistrative Vorgehen: Die soeben veröffentlichte Namensliste der Agrarreform für das Jahr 1929 übertrifft in ihrem radikalen antideutschen Charakter bei weitem alle ihre Vorgängerinnen. Selbst jene des Jahres 1926, bei der bereits 90 Prozent der Enteigenungsfläche den deutschen weggenom-men wurde. Man treibt eine systematische Entdeutschungspolitik in unseren Landen, selbst wenn es zum Schaden der eigenen Wirtschaft geschieht. Wo die polnische Administration es für richtig hielt, gegen deutsches Bodeneigentum vorzugehen, boten ihr die Annullations-, Staatsbürger- und Agrarreformgesetzgebung eine von außen durch den Völkerbundsrat unanfechtbare Handhabe. Verfassungskonform, ja selbst mit den Minderheitenschutz[53]klauseln des Versailler Vertrages vereinbar war die Gesetzgebung. In der administrativen Durchführung jedoch ließ sie sich als Austreibungsmittel gegen den "Feind im Haus" anwenden.

Damit wurde die Umgebung der Thorner Niederung und mit ihr unsere beiden Dörfer vom polnischen Volkstum, meist von "Kongressowski's" - wie die Westpolen sie nannten - immer stärker durchsetzt. Ende der 20er Jahre übernahmen zwei Polen, Bonowicz auf dem Hedberg und Cieminski in der Nähe des Kirchweges in Gurske, die ersten Höfe. Es war damit durch Unterstützung der Verwaltung erstmalig gelungen, in ein deutsches Niederungsdorf einzubrechen. Dies blieb aber ein einmaliger Vorgang, der die Widerstandskräfte der deutschen Bauern weckte.

Als Frau Glesmann in Alt-Thorn 1931 ihren Hof von 37,5 ha nach dem Tode ihres Mannes für 115.000 Zloty verkaufen wollte, fand sich in letzter Stunde doch noch ein neuer Bauer und Ehemann. Es war der aus Mittelpolen zugezogene Theodor Vogel, der den Hof bis zur Vertreibung 1945 bewirtschaftete.

Ein Sohn des vorhin erwähnten Gustav Huhse aus Alt-Thorn, Ernst Huhse, versuchte als Pächter in Groß-Nessau, einem Dorf jenseits der Weichsel, Fuß zu fassen. Das mißlang. Er verlor dabei das Familienvermögen, das sein Vater ihm zur Existenzgründung aus dem Erlös des Hausverkaufs in Thorn-Mocker gegeben hatte. Ohne wirtschaftliche Basis war ein Verbleiben in Polen unmöglich. In Deutschland nahm man ihn auch nicht mit offenen Armen - auf. Er arbeitete dort erst als Landarbeiter, dann als Verwalter auf mehreren pommerschen Gütern. Die Hoffnung trog, in Deutschland als Vertriebener aufgenommen und geehrt zu werden. Der einmal Gescheiterte mußte in fremder Umgebung, in der Massenarbeitslosigkeit herrschte, so manche Demütigung erfahren. Die Lebenstüchtigen, die Ehrgeizigen, die Vitalen meisterten das Schicksal in Exil. Sie zogen in die Städte, die meisten nach Berlin. Ernst Huhse blieb seinem Beruf treu, schrieb an seine Schwester, die Frau von Joachim Krüger, in Alt-Thorn Briefe, die von Sehnsucht nach seiner Heimat überquollen. Jetzt wisse er, nachdem er seine Heimat verloren habe, daß sie das höchste Gut sei. Nie werde er eine selbständige Existenz als Landwirt aufbauen können, dazu fehle nicht nur das Startkapital, sondern auch die Energie und eine Ehefrau, die mitmache. Wo er auch sei und was er begänne, das Unglück, nicht in seiner Heimat sein zu dürfen, verfolge ihn. So viele Briefe, so viele Klagen, so viel Bitternis. Seine Spur verlor sich im Zweiten Weltkrieg.

Was von der Pilsudski-Administration mit Hilfe der einschlägigen Gesetze erreicht wurde, war ein erschütternder Exodus, den es im abendländischen Europa seit der Vertreibung das maurischen Volkes aus Spanien nicht mehr in diesem Ausmaß gegeben hatte. Zunächst wurden die westpolnischen Städte, später die Gutsbezirke und zuletzt ganze Dörfer vom deutschen Volkstum bis auf eine kleine Restbevölkerung gesäubert. Die Schreibtisch[54]täter, aber nicht nur sie, sondern auch die dem Rauschgift Nationalismus verfallene politische Gesellschaft suchten nach Wegen, unter sich zu sein. Die viel gelesene polnische illustrierte katholische Wochenzeitschrift "Przewodnik katholicki" schrieb am 11. November 1938: Stellen wir uns jemand vor, der unsere westlichen Städte kurz vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit verließ und heute in die Mauern der gleichen Städte zurückgekehrt ist. Er kennt die Stadt nicht wieder und kann seine Ohren nicht an das gewöhnen, was er hört. Stolz und Freude schwellen seine Brust. Vor Jahren überall die harte deutsche Sprache, heute hört man nur noch Polnisch. Das polnische Element wird stärker, das deutsche und protestantische geht zurück! Im Jahre 1910 waren in Pommerellen 421.000 Deutsche vorhanden, fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung; im Jahre 1921 war ihre Ziffer auf 177000 gesunken; im Jahre 1931 stellte die Volkszählung in Pommerellen nur noch 109.096 Deutsche fest, heute sind noch etwa 100.000 da. Herrlich, nicht wahr? Und - bravo, Pommerellen! Das sind schöne und große Dinge, über die sich jeder katholische Pole freut!

Frohlocken auch im Bereich der polnischen katholischen Kirche. Wir könnten eine Fülle ähnlicher Aussagen aus dem Munde des Klerus in Messen, Pontifikalämtern und offiziellen Veranstaltungen zitieren. Sie würden erhärten, in wie starkem Maße die katholische Kirche in den Volkstumskonflikt verstrickt war. Kirchenhistoriker und katholische Theologen sollten einmal untersuchen, ob der polnische Klerus von den nationalistischen Heißspornen in diesen Kampf hineingezerrt worden ist, oder ob er von sich aus, vielleicht sogar auf höhere Weisung gehandelt hat. Die entsprechenden Archive werden wohl nicht geöffnet werden. Wenn wider Erwarten die Wahrheit ans Licht gelangen sollte, wie würde sie aussehen? Die Kirche, so wäre dann vielleicht zu hören, sei durch eine dunkle Nacht geschritten, der Herr habe seine leidende Kirche durch einen Abgrund der Trostlosigkeit geführt. Macht ist eben immer mit Dialektik gepaart. Jede Institution, die sich in dieser Welt behaupten will, hat ihre zwei Seiten. Bei der katholischen Kirche ist es die christliche, die leidende und dienende und die konfessionelle, die fanatische und herrschende. Für die deutschen Bauern in der Niederung sah die Wahrheit anders aus: Der von der katholischen Kirche offen und versteckt unterstützte Austreibungskampf sollte die preußisch-protestantischen Gebiete Posens und Westpreußens treffen. Katholische Kirche und polnischer Nationalismus Arm in Arm, das war erneute Gegenreformation an der unteren Weichsel. 200 Jahre nach der ersten. Die Berufsorganisation, die sich die ostdeutsche Landwirtschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts aufgebaut hatte, waren im Korridorgebiet durch den polnischen Staat verboten worden. Der landwirtschaftliche Verein im Kreis Thorn, dessen langjähriger Vorsitzender Hermann Strehlau aus Gurske war, bestand nicht mehr. Die Spitze aller landwirtschaftlicher Vereine, die die [55] Träger des ökonomischen und produktionstechnischen Fortschritts in Westpreußen waren, die Landwirtschaftskammer mit Sitz in Danzig war von ihrem letzten Präsidenten von Oldenburg-Januschau nach 1920 aufgelöst worden. Der "Januschauer" war der Inbegriff für Treue, evangelische Glaubensstärke und. modernes Unternehmertum in der ostdeutschen Landwirtschaft. Dieser letzte preußi-sche Landjunker, der als Symbolgestalt einer untergehenden monarchistischen Gesellschaftsschicht in das 20. Jahrhundert hineinragte, war zurückgetreten.

Die deutschen Bauern in der Thorner Niederung hatten alle Mächte gegen sich, den Staat mit seiner deutschfeindlichen autoritären Administration, die katholische Kirche und die immer radikalere Austreibungsmethoden fordernde Gesellschaft. Die ertragreichen Böden des Culmerlandes hatten Neid erregt und wurden daher bevorzugt den deutschen Eigentümern, Bauern und Pächtern entzogen. Was den Niederungsbauern blieb? Ihre evangelische Kirche in Gurske als moralische Stütze, ihr ökonomischer Sachverstand und ihre Familien, die sich durch Fleiß, Anspruchlosigkeit und gegenseitige Hilfsbereitschaft bewährten. Als Unternehmer haben die Niederungsbauern auf die sich schnell verschlechternden Wirtschaftsbedingungen in der Republik Polen umgehend reagiert. Ihre Höfe wurden durch den Verfall der Erzeugerpreise in der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1931 zunächst hart getroffen. Sie haben die Produktion gesteigert, um damit den Rohertrag zu halten. Nach Untersuchungen von Hans Joachim Modrow sank die Kaufkraft der landwirtschaftlichen Produkte in bezug auf die gewerblichen Produkte in Polen stärker als in Deutschland. Für einen Gespannpflug mußte der Bauer in Pommerellen 1929 den Gegenwert des Lebendgewichtes von 21 kg und 1935 von sogar 73 kg Schweinefleisch aufwenden. Beim Einkauf von Kohle sank der Wert seiner Produkte in ähnlichem Ausmaß. Während er 1929 für den Einkauf von 10 kg Kohle das Lebendgewicht von 3,9 kg Schwein einsetzen mußte, waren es 1935 bereits 11,6 kg. So große Kaufkraftverluste ließen sich durch betriebswirtschaftliche Maßnahmen allein nicht auffangen.

Georg Blohm, der Ordinarius für Betriebslehre an der landwirtschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule in Danzig-Langfuhr, der die landwirtschaftlichen Verhältnisse der deutschen Minderheit in Pommerellen untersuchte, stand vor einem Rätsel. Kriegszeiten, Wirtschaftskrisen, Hochwassernot hatten ihre Vorfahren die Kunst des Überlebens gelehrt. Ihrer Vorstellung nach waren sie als Nachfahren von Pionieren Träger einer alten Bauernkultur, die nur durch Selbsthilfe bewahrt werden konnte. Ein außenstehender Wissenschaftler, der nicht den gesellschaftlichen Prozeß untersucht hatte, der sich aus der Summe von Einzelschicksalen über Jahrhunderte ergab, vermochte nicht die wirtschaftlichen Anpassungsvorgänge zu erkennen. Des Rätsels Lösung ist sehr einfach. Die Niederungsbauern haben ihre Betriebe mit der damals sehr billigen menschlichen Arbeitskraft intensiviert und damit die Möglichkeiten des regionalen Marktes ausgeschöpft. Sie haben sich im übrigen auf eine Selbst[56]versorgungswirtschaft zurückgezogen. Diese einzig richtige Reaktion auf die gegebene wirtschaftliche Lage, in der kostendeckende Preise für landwirtschaftliche Produkte nicht mehr zu erzielen waren, entsprach dem Sozialbewußtsein der ersten Pioniergenerationen, das sich in den alten Bauerngeschlechtern vererbt hatte. Zu ihren traditionellen Erfahrungen gehörte auch die ökologische Erkenntnis, daß dem Boden, der sie ernährte, das zurückzugeben ist, was sie von ihm bei steigenden Erträgen entzogen haben. So seltsam es klingen mag: Sie taten es aus Liebe zur heimatlichen Schone. Sie wußten, was später in der zivilisierten Menschheit vergessen worden ist, wie das biologische Gleichgewicht zwischen Menschen, Tier, Boden und Natur erhalten werden kann.

Während der Zugehörigkeit unserer Dörfer zum preußischen Staat von 1772 bis 1920 hatten sich großräumige Marktverflechtungen zu Berlin und zu dem dichtbesiedelten industrialisierten Westdeutschland hin entwickelt. Diese Verbindungen waren nun abgeschnitten. Der regionale Markt war wieder in seine alte Funktion getreten. Die Produkte wurden ausschließlich im direkten Erzeuger-Verbraucher-Verkehr auf dem altstädtischen Wochenmarkt in Thorn, in einem Verkaufsladen des Hausfrauenvereins in der Heilige-Geist-Straße und in einigen anderen Einzelhandelsgeschäften, Bäckereien, bei Schlachtern und über die deutsche Waren- und Molkereigenossenschaft abgesetzt. Das Sortiment der aus Alt-Thorn und Gurske gelieferten Erzeugnisse war breit. Es umfaßte alle Obst- und Gemüsearten einschließlich Spargel und Rhabarber, die unmittelbar konsumfähigen Ackerprodukte, so z.B. Frühkartoffeln, Puffbohnen, Karotten und sämtliche Erzeugnisse des Haushalts einer bäuerlichen Selbstversorgungswirtschaft vom selbst gebackenen Brot bis zu gekochten und bemalten Ostereiern. Die Geflügelwirtschaft blühte auf, die ebenfalls Produkte für den Erzeuger-Verbraucher-Direktverkehr lieferte. Selbst Fische aus der Weichsel und aus den Ausbrüchen wurden an die städtischen Haushalte geliefert. Die Bauern Johann Dreibach und Knodel, später dessen Schwiegersohn Oskar Hagen, hatten Fischereiberechtigung in der Weichsel. Dreibach fischte außerdem in dem Gursker Ausbruch. Zur rationellen Konservierung der Haushaltserzeugnisse arbeiteten in Alt-Thorn die Hausfrauen Goerz, Giese, Krüger, Wichert und Windmüller eng zusammen. Die Bäuerinnen beschafften gemeinschaftlich eine Büchsenverschlußmaschine und entwickelten eine kleine Konservenproduktion sowohl für den Eigenbedarf als auch für den Verkauf auf dem Thorner Markt. In den Dosen wurden Obstkompott, Gemüse und Hausmacherwurst konserviert.

In Thorn merkten die polnischen Hausfrauen sehr bald, daß die Produkte der deutschen Bauern schmackhaft und preiswert waren. Sie kauften auf den Wochenmärkten, im Laden des Hausfrauenvereins, in den deutschen Milchwarengeschäften von Stoller, im Fleischerladen von Dobslaff, im Mehlgeschäft von Czolbe und aßen Kuchen in der alteingeführten Konditorei von Dorsch, die Obst, Beeren und Eier aus Alt-Thorn bezog. Die Bauernfamilien [57] aus der Niederung hatten die Möglichkeiten erkannt, die ihnen der Markt für ihre Erzeugnisse bot und ihre Produktion darauf eingestellt. In Kooperation mit der Großgärtnerei von Max Hentschel in Thorn wurden aus kleinen Anfängen heraus auch Schnittblumen für den überregionalen Markt in Danzig, Warschau und Krakau erzeugt. Die frischen Schnittblumen wurden mit Flugzeugen dorthin geliefert. Das Geschäft hatte sich, basierend auf holländischen Erfahrungen so gut entwickelt, daß die Gärtnerei Hentschel in den 30er Jahren drei Höfe in Gurske kaufte und hier eine gärtnerische Großproduktion durchführte.

Das Ziel der Bauern war es, einen Gewinn zu erwirtschaften, der es ihnen ermöglichte, den Lebensunterhalt ihrer Familien, die Steuern, einen eventuellen Kapitaldienst und die notwendigen Investitionen zur weiteren Entwicklung ihrer Betriebe zu bezahlen. Die Niederungsbauern führten ihre Betriebe mit dem geringsten wirtschaftlichen Risiko, das in jener Zeit möglich war. Sie waren in der Regel nicht verschuldet. Wenn Kredite infolge der Betriebsübernahme durch den Hofnachfolger und den damit verbundenen Abfindungen der weichenden Erben nicht zu umgehen waren, so versuchten sie, diese möglichst schnell abzuzahlen. Die hohen Zinsen für langfristige, auf dem freien Kapitalmarkt geliehene Kredite, die in den 20er Jahren nicht unter 10 Prozent sanken, zeitweise bis über 30 Prozent angestiegen waren, schlossen eine höhere Verschuldung aus. Vom Landbund Weichselgau, der landwirtschaftlichen Berufsorganisation in Pommerellen, wurden in buchführenden Betrieben betriebswirtschaftliche Erfolgsrechnungen durchgeführt. Für die Niederungsbetriebe liegen solche Jahresabschlüsse nicht vor. Einem Zufall verdanken wir die wesentlichen betriebswirtschaftlichen Daten eines kujawischen Zuckerrübenbaubetriebes für die Jahre 1885 bis 1945. Sie wurden von Harnier veröffentlicht und sind zwar nicht repräsentativ für die Bauernhöfe der Niederung, aber beweisen doch sehr deutlich die Tendenz des möglichen Betriebserfolges in der ostdeutschen Landwirtschaft sowohl in Preußen als auch später in Polen. Die Gewinnrate, ausgedrückt in Prozent des Rohertrages, stieg nach dem ersten Weltkrieg infolge der Inflation 1922 bis auf 43 Prozent. Viele Bauern aus Alt-Thorn und Gurske haben sich in diesen Jahren vollständig entschuldet und darüber hinaus umfangreiche bauliche Maßnahmen aus dem Gewinn finanzieren können.

Am 14. Mai 1924 wurde die Zloty-Währung eingeführt. Die Gewinnrate sank daraufhin in dem untersuchten kujawischen Gutsbetrieb auf 9 Prozent des Rohertrages, stieg jedoch in den folgenden Jahren stetig wieder an, bis sie 1928 den absoluten Höhepunkt der polnischen Zeit von 32,6 Prozent erreicht hatte. Mit der Weltwirtschaftskrise, die auf die Landwirtschaft in Polen im Gegensatz zu Deutschland mit seiner traditionellen Schutzzollpolitik voll durchschlug, stieg die Verlustrate 1930 auf 2,6 Prozent der Roheinnahmen, fiel leicht bis 1933, um dann 1935 wieder auf den höchsten Stand von 3,2 Prozent anzusteigen. In die Verlustzone [58] sind die bäuerlichen Betriebe in unseren beiden Dörfern jedoch nicht geraten, weil sie geringere feste Kosten hatten als ein Gutsbetrieb in Kujawien und daher in Krisenzeiten anpassungsfähiger waren. Jahre mit sehr niedrigen Gewin-nen wie 1924 oder in der Weltwirtschaftskrise 1930 und 1931 sowie 1935 haben dennoch zu Eingriffen in die Substanz geführt. Um den Lebensunterhalt der Familie zu decken, mußten die notwendigen Reparaturen an den Gebäuden unterbleiben oder gar Vermögensteile veräußert werden.

Eine politische Tätigkeit auf kommunaler oder staatlicher Ebene war den Niederungsbauern verwehrt. Ihre staatsbürgerlichen Rechte waren insofern stark beschnitten. Zur Verwirklichung des Artikels 109 der polnischen Staatsverfassung, der den Minderheiten im Rahmen der Selbstverwaltung Zusammenschlüsse öffentlich-rechtlichen Charakters zubilligte, ist es hier nie gekommen. Wem die politischen Bürgerrechte im Sinne einer Mitsprache bei der Ausübung der Staatsgewalt vorenthalten werden, der besinnt sich auf die anderen Möglichkeiten, sich für das Gemeinwohl zu betätigen. Sie lagen vorwiegend auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und kulturellem Gebiet. In diesen Lebensbereichen war der deutschen Volksgruppe Koalitionsfreiheit gewährt worden. Die Chance, sich in Vereinen und Genossenschaften organisieren zu dürfen, wurde auch von den Niederungsbauern genutzt. Mit zunehmender Unterdrückung wuchs ihre Solidarität, aber auch die der Handwerker, Gastwirte, Landarbeiter und Kaufleute in erstaunlichem Maße. In den Niederungsdörfern entstand so etwas wie eine soziale Notgemeinschaft, für die jeder Einzelne mit den ihm gegebenen Fähigkeiten seinen persönlichen Beitrag leistete, Ein Beispiel: Die Futteranbauflächen des Bauern Johann Dreibach in Gurske waren von einem Sommerhochwasser der Weichsel bedroht. Wären die Futterrüben und die sonstigen Feldbestände im Außendeich nicht unter Mithilfe des ganzen Dorfes innerhalb eines Tages und einer Nacht geborgen worden, so hätte Dreibach sein Vieh nicht durch den Winter bekommen. Im nachbarlichen Arbeitseinsatz räumten die Gursker Bauern gemeinsam die Felder, bevor das Hochwasser über die Ufer trat, füllten zwei große Feldmieten und deckten sie ab. Dieses Beispiel steht für viele andere. Standesgegensätze und persönliche Rivalitäten, die es in den beiden Niederungsdörfern natürlich auch gab, hatten wenig zu bedeuten im Hinblick auf den festen Willen, den Bedrohungen, die den einzelnen trafen, gemeinsam entgegenzutreten.

Der Kirchenälteste Ernst Brüschke, Bauer aus Gurske, führte die Kassenbücher der evangelischen Gemeinde. Als in Deutschland die Behörden des Dritten Reiches auf die arische Abstammung Wert legten, bekam Brüschke als Schriftführer der Gursker Kirchenbücher sehr viel zu tun. Er stellte kirchenamtliche Bescheinigungen aus und kassierte soviel Gebühren, daß die im Pfarrhaus und an der Kirchenmauer längst fälligen Reparaturen von diesen Einnahmen bezahlt werden konnten.

[59] Frau Margarete Domke, Bäuerin von Hof Weidenheim in Gurske, der im Außendeich lag und jährlich mindestens zweimal unter Hochwasser zu leiden hatte, war Vorsitzende des Hausfrauenvereins, dem alle Bäuerinnen aus den Niederungsdörfern angehörten. Dieser Verein, der von 1919 bis 1939 bestand, lud jährlich zu einem Wohltätigkeitsfest in das Gasthaus Karl Ross in Gurske ein. Außerdem führte er Fachversammlungen und Besichtigungen durch. In der Adventszeit kamen die Frauen mit Pferdewagen oder Schlitten zur Gastwirtschaft Ross gefahren, ihre Fahrzeuge bepackt mit Pfefferkuchen, Äpfeln, Würsten, Enten und Gänsen, die hier gesammelt und an arme und alte Dorfbewohner im Rahmen einer feierlichen Weihnachtsbescherung verteilt wurden.

Otto Fehlauer aus Gurske war langjähriger Vorsitzender der Zentralmolkerei in Thorn, deren segensreiche Tätigkeit nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Arnold Giese, Eigentümer eines 78 ha Hofes in Alt-Thorn, war Vorsitzender des Junglandbundes und des landwirtschaftlichen Versuchsringes auf Kreisebene. Der Junglandbund förderte die fachliche Ausbildung der deutschen bäuerlichen Jugend. Hans Joachim Modrow beschreibt in seiner Schrift: "Die deutsche Landwirtschaft im Pommerellen 1920 bis 1939" den Junglandbund aus der Sicht des Gründers dieser Nachwuchsorganisation: Es war notwendig, daß der Hoferbe bei den vorliegenden schwierigen Verhältnissen zur Hofübernahme ein gut fundiertes Fachwissen hatte. Die Jugendlichen sollten auch bei der Ausgestaltung von Festen des Landbundes mitwirken, im Sommer mit Festspielen und Reiterquadrillen im Winter mit Bühnenvorstellungen, zum Beispiel des von Graf Klinckowstroem, Bremien, verfaßten Singspieles "Der Lindenkrug und seine Gäste", das auch in allen Kreisstädten Pommerellens aufgeführt wurde.

Eine schöne Aufgabe für Arnold Giese gewiß; aber eine, die graue Kleinarbeit mit sich brachte, weit verstreut liegende ländliche Jugendgruppen zu gründen und sie lebendig zu erhalten. Er unterzog sich ihr nur mit zusammengebissenen Zähnen. Die Jugendarbeit war nicht nur bei Sonnenschein, sondern vorwiegend abends und nachts durchzuführen, im Winter bei jedem Wetter, auch dann, wenn man keinen Hund vor die Haustür treibt.

Der Landbund Weichselgau unterhielt zur Förderung der Landwirtschaft sogenannte "Versuchsringe". Vorsitzender des Versuchsringes der Thorner Niederung war Arnold Giese. Ihm oblag es, Anregungen für die Arbeit des Ringleiters zu geben, der für diese Aufgabe von Lothar Heller in Ostpreußen ausgebildet worden war. Langjähriger Mitarbeiter und Ringleiter war Joachim Dahlweid, Bendomin Landwirtssohn aus dem Kreis Berent, der spätere Schwiegersohn von Joachim Krüger. Unter seiner Leitung wurden Dünger- und Sortenversuche durchgeführt. Ihre Ergebnisse wurden den Mitgliedern mitgeteilt. Darüber hinaus hat Dahlweid die Betriebe der Mitglieder betriebswirtschaftlich und produktions-technisch beraten.

[60] Die fachliche Förderung der Landwirtschaft stand im Vordergrund dieser Landbundarbeit. Dem polnischen Staat gegenüber galt strikte Loyalität als Richtlinie des Handelns. Die Vertretung der Interessen des Berufsstandes dem Staat gegenüber übte der erste Vorsitzende, Senator Hassbach aus Herrmannshof, aus, ein ehemaliger preußischer Domänenpächter auf Birglau, Kreis Thorn. Nach den Worten des stellvertretenden Vorsitzenden des Landbundes von Maercker, Rohlau, erfolgte dessen Wahl, weil er Sejmabgeordneter in Warschau, der polnischen Sprache mächtig und im übrigen unser bester Mann war. Dein Aufsichtsrat des Landbundes gehörten alle Kreisvorsitzenden an, sowie als Hinzugewählte der Vorsitzende des "Verbandes deutscher ländlicher Genossenschaften" Wollmann aus Lehmanei und der Leiter der deutschen Versicherungsgesellschaft "Vistula", Direktor Schienemann aus Dirschau. Der langjährige Vorsitzende des Aufsichtsrates war Joachim Krüger aus Alt-Thorn. Er hatte das Recht an allen Vorstandssitzungen des Landbundes teilzunehmen.

Der hauptamtliche Mitarbeiter in der Hauptgeschäftsstelle in Dirschau, der mit der Landwirtschaftsberatung beauftragte Diplomlandwirt Kuß, hat die Struktur der Landbundmitglieder untersucht. Er kam dabei zu dem Ergebnis, daß 53 Prozent der Mitglieder Bauern mit Höfen bis zu einer Größe von 12,5 ha, 39 Prozent von 12,5 bis 50 ha, 6 Prozent von 50 bis 200 ha und 2,3 Prozent Bauern mit Gütern von mehr als 200 ha waren. Insgesamt gehörten 90 Prozent des landwirtschaftlichen Berufsstandes in Pommerellen dem Landbund Weichselgau als Mitglieder an. Sie alle hatten erkannt, daß ihre Höfe nur bei einem engen Zusammenschluß erhalten und weiterentwickelt werden konnten. Noch einige Bemerkungen zur Schulsituation in den deutschen Niederungsdörfern, die durch zahlreiche Pressionen gekennzeichnet war und besonders deutlich die Ziele der Polonisierungspolitik der Republik erkennen ließ. Die in Bromberg erscheinende deutschsprachige Zeitung "Deutsche Rundschau" berichtete über den Stand des deutschen Schulwesens am 1. September 1929: Am ungünstig-sten liegen die Verhältnisse in Pommerellen. Hier sind 62 Prozent der deutschen Kinder gezwungen, polnische Schulen zu besuchen. In der ganzen Wojewodschaft Pommerellen sind nur 70 staatliche und 5 private Minderheitenschulen vorhanden, mit einer Besucherzahl von insgesamt 4114 Kindern.

Am 10. März 1920 hatte der polnische Minister für das ehemalige preußische Teilgebiet das Schulwesen mit deutscher Unterrichtssprache auf dem Verordnungswege geregelt. Danach sollte vom Staat für je 40 deutsche Kinder eine Volksschule unterhalten werden. Was zunächst wie Minoritätenschutz aussah, wurde ab 1926 von der Pilsudski-Administration durch eine Neuordnung der Schulgeographie in sein Gegenteil gekehrt. So wurde der Gursker Schulbezirk um so viel überwiegend polnische Dörfer der Nachbarschaft erweitert und auf der anderen Seite um so viel deutsche Dörfer eingeschränkt, [61] daß in ihm weniger als 40 deutsche Kinder gezählt wurden. Die gleiche Methode wandten die Regierungsstellen der Wojewodschaft auch bei der Gemeindereform an. Die Gemeindegrenzen wurden so festgelegt, daß die polnische Bevölkerung jeweils die Mehrheit hatte. Zum langjährigen Slotis-Bürgermeister - von Alt-Thorn wurde der polnische Kleinbauer Zelek aus Roßgarten ernannt, obwohl in der gesamten Geschichte für diese beiden Dörfer bis dahin noch nie eine Verwaltungseinheit bestanden hatte.

Da die Gursker Schule nun als eine polnischsprachige Volksschule geführt werden mußte, war ein polnischer Lehrer erforderlich. Der war aber vorerst nicht zu finden. Pädagogisch ausgebildete Polen gab es nur wenige, also polonisierte man einen deutschen Lehrer. Mit welchen Pressionen dies geschehen war, wußte allein Hans Schedler, der neue Lehrer in Gurske. Er war mit der Tochter von Hermann Strehlau in Gurske verheiratet, der seinen Hof geteilt und den ehemaligen Knofschen Hof seinem Sohn, den anderen Teil eben dieser Lehrersfrau vererbt hatte. Der neue Dorfschullehrer war also Bauer und Lehrer in einer Person. Das Schulhaus lag nicht viel weiter als einen Kilometer von seinem stattlichen Hof entfernt. Im Schulhaus befand sich außerdem noch eine Dienstwohnung für ihn. Nachdem der Gesinnungswandel des neuen Lehrers, der aus der mittelpolnischen Stadt Lodz zugezogen war, offenbar geworden war, wurde er von den deutschen Bauern bei jeder sich bietenden Gelegenheit deshalb zur Rede gestellt. Bezeichnend für den inneren Zwiespalt, in den ihn die Vorschriften der Schulbehörde gedrängt hatten, war seine Antwort an die Kritiker: Als Hans Schedler sei er deutscher Bauer ebenso wie sie und leide unter den Folgen des Versailler Vertrages, als Jan - nicht Hans - Schedler müsse er polnischen Sprach- und Geschichtsunterricht erteilen und sich zum polnischen Sieger des "Cud nad Wisla" - (Wunder an der Weichsel) - jener legendären Wende des sowjetrussisch-polnischen Krieges 1920 bekennen. Die Spaltung seiner Person hinderte ihn jedoch nicht daran, jeden Sonntag in der evangelischen Kirche in Gurske die Orgel zu spielen.

Da nur noch in wenigen Schulen Pommerellens deutscher Sprachunterricht erteilt wurde, hatte die Volksgruppe ein System von Wanderlehrern organisiert. Von Zeit zu Zeit besuchte einer dieser Wanderlehrer in den deutschen Gemeinden Familien mit schulpflichtigen Kindern, prüfte deren Leistungsstand in Deutsch, unterrichtete einige Tage, gab pädagogische Richtlinien und hinterließ Lehrbücher für den weiteren Unterricht durch ein Familienmitglied, das von ihm für diese Tätigkeit besonders unterwiesen wurde. Sämtliche Kinder aus Alt-Thorn und Gurske besuchten nach drei Volksschuljahren das Thorner deutschsprachige Gymnasium. Alle wurden soweit im häuslichen Kreise unterrichtet, daß sie die Aufnahmeprüfung in Deutsch bestanden. Mit der polnischen Sprache und im Rechnen hatten sie Dank der pädagogischen Leistung von Jan Schedler keine Schwierigkeiten.

[62] Keine zwanzig Schritte von der Schule entfernt, war die Gursker Kirche. Man kann sich wohl vorstellen, was Sonntag für Sonntag von der Kanzel heruntergepredigt wurde von Pfarrer Anuschek, der am 1. November 1930 von Gurske nach Schönsee berufen wurde. Sein Nachfolger, Pfarrer Krause aus Groß Bösendorf, der hier jedoch seine Hauptpfarrstelle behielt, sprach abwechselnd drohend und dann wieder sanft und milde. Vielleicht entwickelte er an manchen Stellen beim Verlesen der von ihm über alles geliebten Psalmen oder bei der Predigt zu viel Kraft; jedenfalls so viel, daß sich beim Intonieren der Choräle die piepsigen Stimmen der Gemeinde noch dürftiger anhörten. Sie, und später Pfarrer Diedrich, waren die Prediger der 20er und 30er Jahre. Sie haben getauft, konfirmiert, getraut und beerdigt. Sie haben damit die häusliche Frömmigkeit gefördert, wie es ihre Vorgänger im Amt mit ihren Predigten und Amtshandlungen angestrebt hatten.


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letzte Aktualisierung: 09.05.2004