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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Wer sich selbst hilft, dem hilft Gott

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

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Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Meine Mutter wohnte zu der Zeit in Stubben in Ediths Haus. Es hatte nur eine Wärmequelle, denn es wurde vom Küchenherd aus geheizt. Im Winter legte man abends noch einmal tüchtig Torf auf und öffnete alle Türen. Die Wärme zog dann in die Schlafzimmer, die im oberen Stockwerk liegen. Im zweiten Winter, den die Familie in dem neuen Haus wohnte, bekam meine Mutter einhundertachtzig Mark Lastenausgleichsrente nachgezahlt. Mit dem Geld wollte sie sich einen Wintermantel kaufen. Die Familie versuchte, sie von diesem Vorhaben abzubringen, und sagte ihr, dieses Kleidungsstück würde sie alleine vor der Kälte schützen. Wenn für das Geld ein Ofen gekauft werde, könnten sich drei Erwachsene und vier Kinder daran wärmen. Die Gründe, die meine Mutter für den Kauf des Wintermantels vorbrachte, verloren vor ihr selber an Überzeugungskraft. Sie beugte sich den Interessen der Familie, wie sie es immer getan hatte. Da das Wohnzimmer der kälteste Raum im Hause war, wurde der neue Dauerbrandofen dort hineingestellt.

Meine Mutter hatte wieder Menschen um sich, für die sie in unerschöpflicher Liebe sorgen konnte. Das waren ihre beiden Töchter, zwei Enkel und zwei Enkelinnen. In Altthorn war sie in den Kriegsjahren vereinsamt. Ich habe es schon berichtet. Deswegen hatte sie wegen des Verlustes der Heimat nie so recht getrauert. Altthorn war für sie dort, wo ihre Kinder und Enkelkinder waren. Ihre persönlichen Bindungen an die Familie waren größer als an Haus und Hof der in die Ferne gerückten Niederung. Sie entsprach in vollkommener Weise dem Bild, das wir Männer der Familie uns von unseren Ehefrauen gemacht hatten.

Es war wohl unsere bäuerliche Herkunft, die dazu beigetra[312]gen hat, daß wir das Nützlichkeitsprinzip bei unserer Partnerwahl nie aus dem Auge verloren. Unsere Ehen lagen am Kreuzungspunkt von Berechnung und Liebe. Dabei bestand, soweit unsere Erinnerung zurück reicht, eine Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Der Ehemann hatte für die Existenz zu sorgen, die Ehefrau für den Hofnachfolger. Die Männer unserer Familie heirateten bis zu unserer Generation erst nach der Hofübernahme oder nach Abschluß der Berufsausbildung. Die Frauen, die wir uns als Ehepartner ausgesucht hatten, mußten gesund und tüchtig sein. Sie mußten auch Kinder bekommen können und wollen. Die wichtigste Voraussetzung für die Ehe war für uns die Treue unserer Partnerin zu uns und zu unseren gemeinsamen Kindern. Sie war für uns Männer der Familie ein so hoher Wert, weil wir Kinder haben wollten, die durch elterliche Liebe liebesfähig werden.

Wir Männer waren und sind keine Snobs, die sich auf ihren ausschweifenden Lebenswandel, ihre Skandale, ihre Untreue etwas einbilden oder ihre Bettgeschichten gar an die Medien verkaufen. Wir sind eher hausbacken, prüde und vielleicht sogar in manchen Phasen unserer Ehe zu treu. Mein Vater beispielsweise hatte meiner Mutter eher einmal Grund zur Eifersucht gegeben. Bei uns wurde über solche handfesten Anlässe für eine Ehekrise nicht gesprochen. Eheliches Zusammenleben bringt Probleme mit sich, die den Kindern nicht erklärt wurden. Trotzdem ist der Sex in unserer bäuerlichen Familie kein Tabu. Schon als kleine Kinder durften wir mit ansehen, wenn der Hengst die Stute, der Bulle die Kuh, der Eber die Sau deckten, der Hahn die Henne trat. Uns war die Biologie des Lebens wohl vertraut.

Wir lehnten Sigmund Freud ab, der in seiner Psychoanalyse sexuellen Erlebnissen im Kindesalter nachspürte und sie als Ursache für Neurosen des Erwachsenen erkannte. Wir waren auf dem Lande in enger Tuchfühlung zur Natur aufgewachsen. Vielleicht ist das der Grund, warum wir den psychologischen Problemen des Großstadtmenschen verständnislos gegenüberstanden. In der anonymen Gesellschaft läuft die Liebe Ge[313]fahr zu sterben. Freuds Patienten kamen aus Wien. Bei ihnen mag das Sexuelle unnatürlich, lieblos, pervers und deswegen Ursache seelischer Erkrankungen gewesen sein. Trotzdem haben wir bei jedem kleinen Versprecher gesagt: "Das war eine echte Freud' sche Fehlleistung." Wir haben den Entdecker des Unterbewußtseins auch abgelehnt, weil er ebenso wie Karl Marx die Religion als illusionäre Selbsttäuschung der Unterdrückten ansah. Ihre Geschichte sei der Versuch angstzitternder Völker "sich ein Dach über dem Kopf zu schaffen, um gegen Nacht und Finsternis, gegen Dämonen und die Angst vor dem Unbekannten geschützt zu sein". Deshalb, so Sigmund Freud, habe der Mensch Gott erfunden. Unsere Ehen waren so stabil, weil sie am Kreuzungspunkt von Leidenschaft und Liebe, von diesseitiger Existenzsicherung und transzendentem Vertrauen auf Gottes Segen lagen.

Meine beiden Brüder arbeiteten wieder zusammen, ebenso wie früher in Thorn. Der Existenzkampf, den sie erfolgreich führten, nahm ihre Kräfte voll in Anspruch. Werner leistete auf kaufmännischem und Hans-Joachim auf technischem Gebiet mehr, als sie sich abverlangen durften. Beide versuchten, so schnell wie möglich wieder ein Leben in bürgerlichen Verhältnissen zu führen. Die Firma Gebrüder Krüger entwickelte sich erstaunlich gut. Die Großfamilie bewunderte in vielen Gesprächen Werners Fähigkeit, mit einem geringen Eigenkapital zu wirtschaften. Jeder von uns verstand etwas von der Wirtschaft und wußte, daß ein wachsendes Unternehmen Kapital erfordert. Meine Brüder steckten ihre Lastenausgleichsansprüche von je fünfunddreißigtausend Mark in das Geschäft. Das half ihnen, Liquiditätsengpässe zu vermeiden. Von einer wirklich gefährlichen Zahlungsunfähigkeit war trotz schwankender Umsätze zu keinem Zeitpunkt die Rede.

Hans-Joachim und Ursula bekamen in ihrer Familienplanung nicht vorgesehen gewesene Zwillinge. Es waren zwei kräftige Jungen. Schon im Babyalter mußten sie wegen einer schweren Erkrankung meiner Schwägerin in einem Kinderheim an der Bergstraße untergebracht werden. Hier starb Ulrich, der äl[314]teste der beiden Brüder, an den Folgen eines Fehlers der ihn betreuenden Krankenschwester. Die Eltern klärten diesen Unfall, wie die Todesursache von dem Leiter des Kinderheimes dargestellt wurde, nicht auf. Sie sagten sich, eine Analyse der Vorgänge um den plötzlichen Tod ihres Sohnes würde vielleicht einen weiteren Menschen unglücklich machen und ihren Schmerz um den Verlust noch erhöhen. Der zweite Zwillingssohn, der auf den Vornamen Norbert getauft wurde, gedieh gut.

Werner und Ilse bekamen eine Tochter. Zu ihrer Taufe waren wir alle wieder zum ersten Mal nach dem Kriege zu einem richtigen Familientreffen eingeladen. Als wir uns in der Mietwohnung von Werner und Ilse in Goddelau versammelt hatten, drehten sich unsere Gespräche vorwiegend um die Erinnerungen an eine längst versunkene Welt. Meiner Mutter und meinen Geschwistern kam es in dieser primitiven Umgebung zum Bewußtsein, was uns die Heimat, unser Haus in Altthorn, das Mittelpunkt der Familie war, die Feste, die unverwechselbare Weichselniederung bedeutet hatten. Wir sahen uns gegenseitig an und rührten nicht an der noch offenen Wunde, um uns nicht noch mehr weh zu tun. Jeder wußte vom anderen, was er empfand.

Elisabeth, die zum ersten Mal ein Familienfest der Krügers mitmachte, hörte zu. Sie war von den Eindrücken überwältigt. Sie konnte sich nicht in die Temperamente dieser östlichen Menschen einfühlen. Bei unseren Familientreffen wurde bei fortgeschrittener Stimmung viel gesungen. Elisabeth war entsetzt, als wir am Abend vor der Taufe Lieder anstimmten. Werner wurde gefragt, ob er noch wisse, wie schön er bei einem Kränzchen in der Gastwirtschaft Rose den Zarewitsch, der an der Wolga Wache halte, gesungen habe. Er stimmte dieses Lied und andere Schlager der Vorkriegszeit an. Einige von uns sangen mit. Es wollte nicht so unbeschwert wie früher klingen. Die Lieder lagen vergraben unter einer dicken Schicht von grauenvollen Erinnerungen an Krieg und Flucht. Sie waren unter dem Müll der jüngsten Vergangenheit verborgen.

[315] Am nächsten Vormittag gingen wir geschlossen zur kleinen Dorfkirche, wo die Taufe im Rahmen des Gottesdienstes stattfand. Das Mittagessen fand in der Flüchtlingswohnung statt. Die Festtafel, an die wir uns setzten, erinnerte an die Heimat. Sie war auf einem Tisch gedeckt, den Werner und Ilse sich von ihren Vermietern geborgt hatten. Die Stühle und Schemel hatten sie im Haus und in der Nachbarschaft zusammen gesucht. Werner hielt eine Tischrede. "Ich freue mich", sagte er, "daß Ihr alle gekommen seid, mit uns die Taufe von Ute Eletha zu feiern. Der zweite Vorname unserer Tochter ist der gleiche Name, den die Frau von Hans Krüger trug, wie Ihr wißt, unser erster Vorfahre in der Thorner Niederung. Es ist mir eine besondere Freude, auch Elisabeth zu begrüßen, die zum ersten Mal in unserer Runde weilt. Ich hoffe, Du wirst Dich bald bei uns einleben und wohl fühlen." Ein Raunen ging durch die Runde. "Warum denn nicht? Natürlich wird sie das", sagte meine Mutter und prostete ihr mit dem Weinglas freundlich zu. Werner sprach dann vom Krieg und von den Gefallenen der Familie, die man ewig in der Erinnerung behalten werde. Dann erwähnte er Joachim Dahlweid, der immer noch vermißt sei, und von dem wir alle hoffen, daß er bald zurückkehren möge. Vor unsere Augen schoben sich blutige Bilder, und sie füllten sich mit Tränen. Bei allem Leid, so schloß er, sei es unser fester Wille, in die Zukunft zu sehen. Dann bat er uns, auf das Wohl des Täuflings anzustoßen.

Die Männer der Familie hatten in ihrer neuen Umwelt noch nicht recht Fuß gefaßt. Sie waren starrer und nicht so anpassungsfähig wie die Frauen. Wir drei Brüder steckten die Köpfe zusammen. Uns bewegte die Frage, welche Erfahrungen wir beim Aufbau unserer Existenz gemacht hatten. Ich konnte wenig zu diesem Gespräch aus praktischer Erfahrung beitragen. Werner hatte bereits etwas Erfreuliches zu berichten.

"Einen Anfang zu finden , ist sehr schwer. Als uns die Flugfabrik Eberhard in Ulm drei Waggons Schare geliefert hatte, kamen wir gut ins Geschäft. Die Bauern hier haben nur Pfer[316]depflüge. Die Schare wurden uns in drei Größen geliefert. In unserer Werkstatt können wir sie an die verschiedenen Pflugtypen anpassen. So konnten wir im Hessischen Ried, einer sehr fruchtbaren Landschaft zwischen Neckar, Rhein und Main, gut ins Geschäft kommen. Unser Kundenstamm reicht sogar darüber hinaus bis in den Odenwald hinein. Die Bauernhöfe hier sind im Vergleich zu den landwirtschaftlichen Betrieben im Kreis Thorn sehr klein. Für einen Landmaschinenhändler bedeutet das, sich auf die Wünsche vieler kleiner Kunden einzustellen, deren Betriebe bisher kaum machanisiert sind. Andererseits ist das auch eine Chance für uns."

Hans-Joachim hatte sich diesen Bericht schweigend angehört. Sein Abstieg vom Firmenchef in Thorn zum Mitarbeiter seines Bruders machte ihm zu schaffen.

"Als Werner", fing er zögernd mit einem unsicheren Seitenblick auf seinen Bruder an, "uns in Vechelde besuchte und gefragt hatte, ob ich wieder wie früher mit ihm in einer Firma zusammenarbeiten möchte, hatte ich sofort ja gesagt. Ich war arbeitslos und sollte vom Arbeitsamt als Waldarbeiter vermittelt werden. In Goddelau angekommen, ging ich gleich zur Handwerkskammer und beantragte dort meine Anerkennung als Landmaschinenmeister. Außer den drei Monteuren aus Thorn, die bei uns arbeiteten, waren hier keine ausgebildeten Landmaschinenschlosser zu finden. Deswegen hatten wir sofort nach meiner Anerkennung als Meister mehrere Lehrlinge angestellt. Die Mitarbeiter aus Thorn fanden bald besser bezahlte Arbeitsplätze bei Opel und in anderen Industriebetrieben. Einer wanderte bald nach Kanada aus. Trotz der großen Arbeitslosigkeit ist es sehr schwer, qualifizierte Facharbeiter zu bekommen. Es ist fast noch schwerer, die technischen Probleme unserer Bauern zu lösen. Ihr könnt es Euch nicht vorstellen, mit welchen Höfen wir es hier zu tun haben. Neulich war ein Bauer in der Werkstatt, der bewirtschaftet vierzehn Hektar. Seine Felder sind auf sechzig handtuchförmige Teilstücke, auf denen teilweise Obstbäume stehen, verteilt. Er erzählte mir entrüstet, daß er seinem [317] Sohn gesagt habe, er solle die Zuckerrüben verhacken und verziehen. Als er am nächsten Tag auf seinen Acker gegangen sei, um nachzusehen, was sein Sohn geschafft habe, hätten die Zuckerrüben wie eine Bürste dagestanden. Als er ihn wütend fragte, warum er den ganzen gestrigen Tag verbummelt habe, sei er sogar noch frech geworden. Erst nach einem langen Wortwechsel hatte sich herausgestellt, daß der Sohn die Zuckerrüben des Nachbarn gehackt und verzogen hatte. Den Umgang mit unseren Kunden, die hessischen Dialekt sprechen, müssen wir erst lernen."


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004