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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Leitbilder

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

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Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Am 30. November 1947 hatten sich im Gasthaus "Waldschlößchen" bei Reinhausen im Landkreis Göttingen etwa fünfzig Personen zwecks Gründung der "Agrarsozialen Gesellschaft" versammelt. Der Beweggrund der Männer und Frauen, die hier zusammenkamen, war, den Gedankenaustausch alter Freunde aufzunehmen über das Ausmaß und die Gründe der Niederlage von 1945 und über neue Wege, die aus dem Strudel des Zusammenbruches hinausführen. Es hatte schon während des Krieges ein "Berliner Kreis" bestanden, dessen Arbeitsergebnisse in einer Schrift von Artur v. Machui dokumentiert sind, die zu Pfingsten 1946 in Göttingen erschienen war.

[295] In einer Einführung hatte Artur v. Machui geschrieben: "Diese Gedanken sind das Ergebnis einer langen Vorarbeit. Sie sind überdies nicht das Eigentum von einzelnen, sondern einer Gruppe. Sie hatte noch keinen Namen, als ihr Kern sich bildete. Wie in allem Sozialen, so gab es auch in dem agrarsozialen Bereich geistige Kräfte, die während des Nationalsozialismus an den Problemen und Tatsachen dran bleiben wollten, die das als eine Verpflichtung empfanden, um für ein produktives Denken die Kontaktstellen in der Wirklichkeit zu erhalten."(16) Ich fühlte mich mit diesen Männern und Frauen verbunden, die schon während des Naziregimes den Realitäten unseres Agrarsystems vorurteilsfrei auf den Grund gegangen waren und nach Liquidierung des Dritten Reiches etwas zum Aufbau einer neuen ländlichen Sozialordnung beigetragen hatten. Von den neun Gründungsmitgliedern der Agrarsozialen Gesellschaft war ich der Jüngste. Der aus vier Personen bestehende Vorstand stellte mich als wissenschaftlichen Mitarbeiter ein. Das war meine erste berufliche Position, die nur geringe Einkünfte erwarten ließ, die es mir jedoch ermöglichte, ans Heiraten zu denken.

In dieser Zeit begann ich, die Werke von Hermann Hesse zu lesen, der für mich wie kein anderer für das Lebensgefühl der beiden Kriegsgenerationen, also auch für mein eigenes, sensibel war, obwohl er eine bürgerliche Existenz in seinem großen Haus in Montagnola mit Blick auf den Luganer See führte. Ich stieß zufällig auf das kleine Prosastück "Stunden am Schreibtisch", in dem Hesse aus einem seiner Briefe zitiert: "Wir leben heute im Zustand der Verzweiflung aller wirklich wachgewordenen Menschen, die Verzweiflung ist unser legitimer Ort und Stand. Wir sind damit zwischen Gott und das Nichts gestellt, zwischen ihnen atmen wir aus und ein, zwischen ihnen schweben und pendeln wir. Wir hätten jeden Tag Lust, das Leben hinzuwerfen, und werden doch von dem gehalten, was in uns überpersönlich und überzeitlich ist. So wird unsere Schwäche, ohne daß wir darum Helden wären, zur Tapferkeit, und wir retten ein we[296]nig vom überlieferten Gut an Glauben und Vertrauen für die nach uns Kommenden." Ich las "Narziß und Goldmund" und später den Roman "Der Steppenwolf"(17). Die Gespaltenheit des Helden in eine menschliche und eine wölfische Natur, in nihilistische Verzweiflung und Gläubigkeit schien mir die eigene Wirklichkeit widerzuspiegeln. Es war ein neues Bild vom Menschen, dem ich in Hesses Werken begegnete.

Im "Glasperlenspiel"(17), dem Hauptwerk Hesses, setzt er sich mit der Epoche auseinander, die auf die Weltkriege folgen wird. Josef Knecht bringt es in der Kunst und Technik des Glasperlenspieles zur höchsten Meisterschaft. Er steigt in der Hierarchie seines Ordens bis zum Magister Ludi auf und doch sagt ihm ein Benediktinerpater: 'Ach, von Theologie wollen wir gar nicht reden. Davon seid Ihr noch allzu weit entfernt. Es wäre Euch schon mit einigen einfacheren Fundamenten gedient, zum Beispiel einer wirklichen Lehre und einem wirklichen Wissen vom Menschen. Ihr kennt ihn nicht, den Menschen, nicht seine Bestialität und nicht seine Gottesbildschaft.' Josef Knecht wurde für mich die Symbolfigur für den autonomen Menschen, der sich alle Wissenschaften und Künste zum intellektuellen Besitz gemacht hat und gerade deswegen nicht den 'Wärmehauch des Lebens', 'gewisse Dinge, deren Existenz nicht beweisbar ist', empfinden kann. Josef Knecht lebt in einem Männerorden, den Goethe, falls er ihn gekannt hätte, pädagogische Provinz genannt haben würde. Sie gibt der primitiven, gefährdeten, ungeordneten Welt, die schon immer bestand und von neuem wiederkehrt, Lehrer, Bücher, philosophische Methoden. Nietzsche läßt grüßen: ewige Wiederkehr des Gleichen in der realen Welt.

Josef Knecht vervollkommnet sich in der Eliteschule von Kastalien, durch eigenes Bemühen, begünstigt durch Glück und göttliche Gnade. Er führt den symbolischen Namen Knecht, lebt wie ein Büßermönch und befähigt sich zum sozialen und kulturellen Dienst am Menschen. Der Vollkommenheit nähert er sich durch Meditation. Durch sie versöhnen sich in ihm Geist und Seele, denn Verbohrtheit in geistige Arbeit [297] ohne Meditation führt unweigerlich in Besessenheit durch Ideologien und ehrgeizige Träume. Dadurch geht die Fähigkeit verloren, sich vom gerade Aktuellen zu lösen. Auf diese Weise wird ein geistiger und kultureller Adel in Kastalien erzogen. Hesse verlegt diese Aufgabe ebenso wie Nietzsche in eine fernere Zukunft, weil beide sie vorerst nicht für realisierbar halten. In der näheren Zukunft beherrschen Politik, Wahlkämpfe, Kriege und der feuilletonistische Zeitgeist das Geschehen. Für Knecht verselbständigt sich das Glasperlenspiel, je besser er sich in ihm vervollkommnet. Seine Person wird blaß und verschwindet hinter dem Prozeß wachsender Detailkenntnisse und Virtuosität in der Technik.

Josef Knecht wird zum Typus des Spezialisten und Repräsentanten einer Kaste. Dadurch verliert er die Beziehung zur Natur, zur Ganzheit des Lebens, zur Familie, zur Gesellschaft, zur realen Welt. Sein Streben ist durchaus auf das Ziel hin gerichtet, die Geistes- und die Naturwissenschaften über einen einigen Geist den Sakramenten, also Gott, zu nähern. Dieses Bemühen bleibt aber angesichts der geistlosen Weltmächte nach Hesses eigenem Zeugnis ein letztlich vergebliches Tun. In Knecht wächst die Erkenntnis, daß er sich dadurch zum weltfremden Gelehrten des im Elfenbeinturm schaffenden Dichters und Künstlers entwickelt. Es wird ihm bewußt, daß er sich kaum noch vom Nur-General, vom Nur-Architekten, vom Nur-Bankier, vom Nur-Ökonomen, vom Nur-Beamten, vom Bruchstück-Menschen des zwanzigsten Jahrhunderte unterscheidet. Er tritt deswegen von seiner hohen Position innerhalb der Hierarchie von Kastalien zurück und sieht seine Lebensaufgabe darin, einen einzelnen jungen Menschen für das Leben in der Gesellschaft zu erziehen. Kaum hatte er dies begonnen, da ertrinkt er im eisigen Wasser eines Bergsees, den ich als Symbol für die in Rationalität erkaltete Welt des aufgeklärten Menschen erkannte. War mit Josef Knecht wieder einmal das Abendland untergegangen? Oder will Hesse gar nur den Spezialisten, den wurzellosen Ideologen, den Bruchstück-Menschen ertrinken lassen? Er blieb mir die [298] Antwort schuldig. Trotz intensivster Lektüre seiner Werke verriet mir Hesse nicht, ob er selbst vielleicht Josef Knecht sei und die bei den Deutschen seltene Tugend der Selbstironie besitze.

Es zog mich in der Zeit immer wieder zu Hesse hin. In einem seiner Bücher fand ich den Satz: "Für die Zukunft schiene mir Deutschland die Aufgabe zu haben, zwischen Sowjetunion und dem Westen neue Formen der Entkapitalisierung zu finden." Hesse konnte ich mir erst im Lichte von Nietzsches praktischer Philosophie erschließen. Beide hatten die Vision einer nachkapitalistischen und nachkommunistischen Welt. Meine Hoffnung bestand seit den Göttinger Jahren darin, daß es uns Deutschen gelingen werde, ein demokratisches Gesellschaftssystem aufzubauen, in dem Wettbewerb, Eigeninitiative und Unternehmungsgeist mit Kooperation, sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit gemischt sind. Außer dem Studium der Agrarpolitik, der Wirtschaftslehre des Landbaus und der Vorbereitung auf die Promotion führte ich innerhalb der Agrarsozialen Gesellschaft intensive Diskussionen über den Aufbau einer gerechten ländlichen Sozialordnung. Es war meine dienstliche Aufgabe, die ersten Frühjahrstagungen der Gesellschaft zu organisieren und deren Ergebnisse in Rundbriefen und später in der "Schriftenreihe für ländliche Sozialfragen" zu veröffentlichen.(18) In den Jahren 1949 bis 1952 schälten sich aus den von gegensätzlichen parteipolitischen Standpunkten her geführten Debatten schließlich klare Leitbilder heraus.

Artur v. Machui, meinen Vorgesetzten in der Agrarsozialen Gesellschaft, zeichnete eine große Sensibilität für kommende politische Entwicklungen aus. Er stemmte sich mit seinem begrenzten politischen Einfluß und seiner großen Beredsamkeit gegen die damals drohende, aber noch nicht vollzogene Spaltung der deutschen und europäischen Gesellschaftsordnung. Es gelang ihm am 23. und 24. Juni 1948 in Imshausen, auf dem Gut des Bruders von Adam v. Trott zu Solz, der zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 gehörte und gehängt wurde, ein gesamtdeutsches Gespräch zu veranstalten. Eine gei[299]stige Elite, zu der Ernst Nikisch, Carl Friedrich v. Weizsäcker, Walter Dirks, Alexander Mitscherlich, Eugen Kogon und andere gehörten, hatten sich dort mit dem Ziel versammelt, eine deutsche Plattform zwischen den Sowjets und den US-Amerikanern zu gewinnen. V. Machui vertrat nach der Tagung in Imshausen die Meinung, daß er seine Vorstellungen von einer zukünftigen ländlichen Sozialordnung eher in der sowjetischen Besatzungszone als in den deutschen Teilgebieten der drei Westmächte in praktische Agrarpolitik umsetzen könne. Wir diskutierten über diese Frage viel miteinander, manchmal in seiner Wohnung bis tief in die Nacht hinein. Er war zu der Zeit Referent in der Zweizonenverwaltung, die ihren Sitz in Frankfurt hatte. Unsere Gespräche mündeten meistens in eine eigensinnige Verteidigung von konträren Standpunkten. In meiner Erinnerung sind im Kern folgende Thesen und Antithesen haften geblieben:

v. Machui: "Politiker wie Konrad Adenauer und Ludwig Erhard wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen und den Kapitalismus wieder einführen. Wir haben die einmalige Chance, eine neue Gesellschaft aufzubauen, da die bürgerliche Ordnung von den Nazis ein für allemal zerstört ist."

Mich interessiert, sagte ich, was Sie mit den Bauern vorhaben. Ihre Vorstellungen von der Dorfgesellschaft und der Gutsgesellschaft sind mir zu verschwommen. Karl Marx, dessen Schriften ich für meine Doktorarbeit gründlich studiert habe, spricht in seinem Hauptwerk "Das Kapital" vom sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln, wodurch die Freiheit und Würde des Menschen wie mit einem Schlage herzustellen seien. Über die Wirtschaftsordnung, die nach der Enteignung der Produktionsmittel entstehen soll, hat er sich kaum, und wenn überhaupt, dann nur unklar geäußert. Er mißt die kapitalistische Wirklichkeit mit der Elle einer Utopie, eines Paradieses. Wollen Sie den Boden in sozialistisches Eigentum überführen? Was verstehen Sie darunter, Verstaatlichung, Einführung des sowjetischen Modells der Landwirtschaft?

v. Machui: "Nun beruhigen Sie sich doch. Wir sollten sach[300]lich darüber diskutieren. Ich meine, daß das Land in die Hand derjenigen gehört, die es pflügen, bestellen und die Saat ausbringen, also den Bauern. Genauso verfahren die da drüben. Hier bei uns wird von der Bodenreform nur geredet. Im Westen wird sich nichts ändern. Ich nehme Ihr ständiges Gerede von der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr ernst. Es tur mir leid. Sie sind für mich in diesem Punkt unglaubwürdig."

Das ist keine Antwort auf meine Frage, sagte ich in großer Erregung. Wie halten Sie es mit dem Bodeneigentum der Bauern?

v. Machui: "Soweit ich informiert bin, ist in der sowjetischen Besatzungszone noch niemand enteignet worden. Die Gutsbesitzer, die geflohen sind, haben ihr Bodeneigentum verloren. Die Güter, die aufgeteilt worden sind, wurden den Siedlern übergeben. Sie bearbeiten den Boden, sie sollen auch die Ernte einbringen, und nicht die Gutsbesitzer. Der Boden wird im Eigentum der Siedler bleiben."

Herr v. Machui, da kennen Sie den Kommunismus schlecht. Marx hat einmal irgendwo geschrieben, der Großbetrieb wird den Kleinbauernhof überrollen, wie die Eisenbahn eine Schubkarre. Der landwirtschaftliche Großbetrieb heißt in der Sowjetunion Kolchose und Sowjose und nicht Dorfgesellschaft und Gutsgesellschaft. Die Siedlerstellen in der Sowjetzone sind nur eine Vorstufe für den sozialistischen landwirtschaftlichen Großbetrieb.

v. Machui: "Woher wollen Sie das so genau wissen?"

Woher ich das weiß? Von Karl Marx weiß ich es, denn der hat im "Kapital" das hohe Lied der Mechanisierung gesungen. Die Marionetten Moskaus in der Ostzone werden niemals die kleinen Siedlerstellen technisieren. Im "Kapital" steht, die Mechanisierung sei ein Sieg des Menschen über die Natur. Im kapitalistischen System sei sie ein Mittel, den Menschen zu unterjochen. Schon aus diesem Grunde wird man die ostzonalen Siedler und die nicht bodenreformierten Bauernhöfe kollektivieren.

v. Machui: "Mag sein, aber hat Marx nicht recht, wenn er [301] sagt, der Kleinbauernbetrieb sei ökonomisch nicht zu mechanisieren? Deswegen habe ich den Vorschlag gemacht, Dorfgesellschaften und Gutsgesellschaften einzuführen. Die Vollmechanisierung wird doch auch bei uns sehr viel Geld kosten, das die Bauern nicht haben. In meinem Konzept sollen die Banken das notwendige Investitionkapital in Form des Beteiligungskredites zur Verfügung stellen. Und was das Bodeneigentum anbelangt, da kann ich Sie beruhigen. Die Bauern können vorerst Eigentümer bleiben und ihren Grund und Boden zur Nutzung in die Dorfgesellschaft einbringen. Sie werden durch Pachtzahlungen dafür entschädigt."

Das kann ich mir nicht vorstellen. Freiwillig werden die Bauern nicht mitmachen. Die Banken müßten unternehmerisches Risiko eingehen. Das werden sie nicht tun. Zwang lehne ich als Mittel der Agrarreform ab. Was Sie wollen, ist nur in einem totalitären Staat durchzuführen.

v. Machui: "Wir haben neulich in Imshausen über eine deutsche Plattform diskutiert. Ich stehe auf dem Standpunkt, mit der Sowjetunion würden wir einen deutschen Staat bekommen, gegen diese Weltmacht niemals. Der Schlüssel für die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates liegt in Moskau."

Wird Stalin einem freien, demokratischen Deutschland zustimmen? Einen deutschen Nationalstaat unter sowjetischer Hegemonie kann ich mir nur als zentral von Moskau aus gelenkte Planwirtschaft vorstellen. Dann würde die deutsche Wirtschaftskraft dem russischen Imperialismus und der marxistisch-leninistischen Ideologie dienstbar gemacht werden. Alle, die sich dem System nicht bedingungslos unterwerfen, würden in den stalinistischen Arbeitslagern verschwinden. Der Panslawismus "läßt Europa nur eine Alternative: Unterjochung durch die Slawen oder Zerstörung für immer des Zentrums ihrer Offensivkraft - Rußland".

v. Machui: "Verketzern Sie die Sowjets nicht so. Sie haben einen russischen Angstkomplex. Den müssen Sie zunächst einmal abbauen. Haben wir von Amerika mehr zu erwarten? Von [302] Großbritannien und Frankreich will ich gar nicht reden. Das, was Sie da vom Panslawismus sagen, gibt keinen Sinn. Das darf man nicht einmal denken. Es setzt eine Politik der Stärke und der Einigkeit der Westmächte voraus. Amerika ist mit der Sowjetunion verbündet, und Westeuropa ist in rivalisierende Nationalstaaten aufgeteilt."

Was ich soeben über den Panslawismus gesagt habe, war ein wörtliches Zitat, das ich vor kurzem in den Schriften von Karl Marx gelesen habe. Im übrigen kann ich Ihnen noch mit einem weiteren Zitat dienen, das Ihnen gar nicht ins Konzept passen wird. Stalin hat einmal gesagt, auf die Deutschen passe der Kommunismus wie ein 'Sattel auf die Kuh'.

v. Machui: "Sie mit Ihren konservativen Ansichten sind als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Agrarsozialen Gesellschaft fehl am Platze."

Dann kündige ich meine Stelle.

v. Machui: "Das überlegen Sie sich gut. Sie reagieren zu emotional, junger Freund."

V. Machui konnte seinen gesamtdeutschen Kurs nicht durchhalten, denn die Russen und die Angelsachsen hatten ihre deutsche Kriegsbeute bereits untereinander aufgeteilt und die Bewohner als Geiseln genommen. Die Mehrheit der Mitglieder der Agrarsozialen Gesellschaft entschied sich ebenso wie ich für die Westintegration. V. Machui isolierte sich und schied schließlich aus der Agrarsozialen Gesellschaft aus.

Der spätere Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Heinrich Lübke, zeigte Verständnis für unsere Ideen einer sozialen Evolution. Es ist ihm zu verdanken, daß die Agrarsoziale Gesellschaft sich während seiner Amtsperiode als Bundesminister und später als Bundespräsident konsolidieren konnte. Dann war ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter schon ausgeschieden.

Die Auseinandersetzungen in der Agrarsozialen Gesellschaft um eine Konzeption für die zukünftige ländliche Sozialordnung erreichten ihren Höhepunkt, als ich mich mit Elisa[303]beth auf einen Hochzeitstermin geeinigt hatte. Als die ohnehin sehr knappen Gehaltszahlungen meines Arbeitgebers einige Monate ausblieben, mußten wir ihn zwangsläufig vom Frühjahr in den Herbst achtundvierzig verlegen. Mir war die kirchliche Trauung wichtiger als die standesamtliche. Letztere war für uns selbstverständlich zur Wahrung der bürgerlichen Form. Die Zeit der unformellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern war noch nicht gekommen. Elisabeth hatte sich "aus Liebe zu mir", wie sie später einmal sagte, durchgerungen, auch die evangelische Trauformel mit dem Zusatz "bis der Tod Euch scheidet" mit "ja" zu beantworten. Die Trauung fand am 14. November 1948 in der stimmungsvollen St. Jacobi-Kirche durch den baltischen Pastor Eichhorn statt. Die Hochzeitsfeier in der Wohnung meiner Schwiegereltern spielte sich im engsten Familienkreis ab. Ich war ausnahmsweise einmal nicht christlichsozial, sondern ästhetisch-psychologisch gestimmt. Darin traf ich mich mit meiner jungen, hübschen Frau, die sich ganz im Gegensatz zu ihrem ungezähmten Wesen einmal sittsam und brav an meiner Seite aufhielt. Wir spielten in seltener Übereinstimmung friedensmäßige Hochzeit, wie es in unseren bürgerlich-bäuerlichen Familien selbstverständliche Tradition war.

Alle Vorstellungen von Elisabeth ließen sich nicht realisieren. Sie hatte sich eine Hochzeitskutsche gewünscht. Vater Grünewald hatte seiner Tochter bedeutet, dieses übersteige seine finanziellen Möglichkeiten, sie müsse sich mit einem Leihauto für die Fahrt zur Kirche begnügen. So ziemlich alles, was zur Wahrung des äußeren Scheines unerläßlich ist, war geborgte Schönheit. Elisabeths weißes Hochzeitskleid mit Kranz und Schleier waren geliehen. Auf dem obligaten Hochzeitsfoto im Garten am Kreuzbergring stehe ich wie ein Strahlemann mit weißem Stehkragen, weißer Fliege und Frack. Eigentlich fehlten nur noch die weißen Handschuhe, dann wäre der Bräutigam der zwanziger Jahre aus guter Familie vollendet gewesen. Wie schnell wandelt sich die Mode? Sie ist ein Spiegel der Zeit. Von Mode, schon gar [304] von Herrenmode, fünf Monate nach der Währungsreform zu sprechen, wäre vermessen. Ich fand es schön, wie meine junge Frau aussah. Meine Schwester Edith hatte auf ihren Treckwagen den Frack und das Frackhemd ihres gefallenen Mannes über die Stunde Null hinweg gerettet. Mit diesen Kleidungsstücken einer anderen längst versunkenen Zeit war ich von meiner Familie herausgeputzt worden. Die Sachen paßten und sahen gut aus, jedenfalls meinte das Elisabeth.

Wir lebten in einer schönen Welt an unserem Hochzeitstag, und was kümmerte uns Not und Elend um uns herum. Vor mir liegt die Speisenfolge zur Hochzeitsfeier des Fräulein Gerda Doerksen - Elisabeths Mutter - mit Herrn Karl Heinrich Grünewald am 15. Oktober 1921 in Groß Zünder. Es gab: Geflügelcremesuppe, Schinken in Burgunder, Karpfen blau, Ente mit eingemachten Früchten, Eis, Käsegebäck, Obst und Kaffee. Auf der Rückseite der Menukarte ist die Musikfolge vermerkt, die die speisende Gesellschaft trotz des gerade beendeten Ersten Weltkrieges, Revolution und beginnender Geldinflation mit zwölf Piécen in eine kultivierte Hochstimmung versetzen sollte. Die Kapelle begann mit dem Einzug der Gäste aus Tannhäuser von Richard Wagner, spielte Kompositionen von Zeller, noch einmal von Wagner, Grieg, dann ein Potpourri von Mozart, die Barcarole und- einen Walzer aus Hoffmanns Erzählungen von Offenbach. Wenn man unsere Hochzeit mit diesem Maßstab mißt, dann waren wir tief gesunken, ästhetisch-psychologisch versteht sich. Aber Mutti hatte Elisabeths Wunsch erfüllt, es gab eine Suppe vorweg, dann Zunge in Burgunder, eine Nachspeise und Kaffee.

Wir saßen an einer festlich gedeckten Tafel, und Schwiegervater hielt eine Rede. Neben mir Elisabeth-Braut, die an Grazie und rätselvoller Anmut nicht zu übertreffen war. Uns verband ein Geheimnis, von dem ein unerklärlicher Zauber ausging. Elisabeth erwartete ein Kind. Die Gesichter der bürgerlichen Gesellschaft hätte ich sehen wollen, wenn ich aufgestanden wäre und in einer kurzen Rede gesagt hätte:

[305] Also, liebe Freunde, ich danke Euch, daß Ihr alle gekommen seid. Auch im Namen meiner Frau gebe ich bekannt, daß in sechs Monaten, so Gott will, unser erstes Kind geboren wird. Wir freuen uns darauf. Obwohl mir derartige Gedanken durch den Kopf gingen, habe ich geschwiegen. Außer uns beiden wußte solange niemand etwas davon, bis es nicht mehr zu übersehen war.

Nach der Hochzeit zog Elisabeth in meine Studentenwohnung an der Weender Landstraße. Ein Theologiestudent, der mit mir zusammen zwei kleine Zimmer bewohnt hatte, zog aus und überließ uns das kleine Reich in der dritten Etage, mit einem Klo auf der halben Treppe.

Mein Arbeitstag war in den nächsten zwei Jahren mit Studium, Doktorarbeit, wissenschaftlicher Tätigkeit in der Agrarsozialen Gesellschaft und mit Grundsatzdiskussionen zur Ausgestaltung einer zukünftigen ländlichen Sozialordnung mehr als ausgefüllt. Von vier bis sechs Uhr schrieb ich meine Promotionsarbeit. Inzwischen war Elisabeth aufgestanden und hatte Frühstück gemacht. Nach einer einstündigen Pause ging ich in die Universitätsbibliothek, las, machte Literaturauszüge und schrieb wissenschaftliche Texte bis zum Mittagessen in der Mensa. In dieser Zeit führte ich auch einen Forschungsauftrag des 'Verbandes der landwirtschaftlichen Krankenkassen' zum Thema "Das Prinzip der landwirtschaftlichen Selbstverwaltung in seinem gegenwärtigen Wandel angewandt auf die Körperschaften der Sozialversicherung" durch. Für diese Arbeit wendete ich die gleiche Untersuchungsmethode wie für meine Doktorarbeit an. Der Forschungsauftrag und die anderen Arbeiten für die Agrarsoziale Gesellschaft füllten den ganzen Nachmittag aus. Abends hatten wir oft Gäste, mit denen die anstehenden Probleme der ländlichen Sozialordnung diskutiert wurden. Es hat keine Zeit in meinem Leben gegeben, die so prall mit geistiger Tätigkeit angefüllt war wie unsere ersten beiden Ehejahre. Mein Doktorvater, Prof. Dr. Wilhelm Abel, warnte mich eines Tages, ich solle mich nicht in den Elfenbeinturm theoretischer Gedankenspiele einsperren. Er legte mir nahe, [306] zu dem Promotionsthema "Das landwirtschaftliche Organisationswesen, Theorie und Wirklichkeit seiner Entwicklung und Gestaltung" Feldstudien in einem Dorf bei Göttingen zu treiben. Mich faszinierte dagegen die dialektische Methode von Hegel, und ich begann in Bezug auf mein Thema, wie Schopenhauer es einmal gesagt hatte, zu hegeln. Ich folgte dem methodischen Vorgehen bei der Wahrheitsfindung, die der Philosoph des deutschen Idealismus vorgeschlagen hatte. Sie besteht darin, eine bestimmte Vorstellung von der Wirklichkeit des Menschen zugespitzt zu formulieren, beispielsweise, der Mensch ist ein absolut freies Wesen. Einer solchen Aussage wird die Kehrseite entgegengestellt, beispielsweise mit der Behauptung, der Mensch ist ein kollektives, unfreies Wesen. Die Wirklichkeit des Menschen wird nun in einem Gespräch gesucht, bei dem die Dialogpartner ihren Standpunkt, die These und die Antithese, solange verteidigen, bis sie einen Kompromiß, eine Synthese, gefunden haben. Sie kann lauten: Der Mensch ist zugleich ein individuelles und ein kollektives Wesen.

Die These zum landwirtschaftlichen Organisationswesen sei dessen Zustandsbefund, nachdem die liberalen, preußischen Agrarreformen durchgeführt, die Grundherrschaft des Adels aufgelöst und der Boden privatisiert waren. Zur Beschreibung des Wesens dieser Sozialordnung griff ich auf den Liberalismus des englischen Nationalökonomen Adam Smith zurück. Er hatte als erster die freie Konkurrenz der isolierten Betriebe als den Motor des Reichtums der Nationen erkannt. Als Antithese schien mir das kommunistische Manifest von Marx und Engels am reinsten ausformuliert zu sein. Die Aufgabe, die ich mir stellte, sah ich darin, in einem theoretischen Prozeß eine Synthese zwischen dem individualistischen und kollektivistischen Gesellschaftssystem zu finden. Sie stellte ich dann der historischen Entwicklung des landwirtschaftlichen Organisationswesens vom Mittelalter bis in die Gegenwart gegenüber. Die von mir gewählte Methode erwies sich als fruchtbar. Sie führte zu dem Ergebnis, daß die landwirtschaftlichen Familienbetriebe in einer fre[307]en Wettbewerbsordnung die größten Chancen haben, ihre Produktionsfaktoren optimal zu nutzen. Ein starker Staat müsse aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die soziale Sicherung und Chancengleichheit der in der Landwirtschaft tätigen Menschen setzen. Dazu gehöre eine ähnliche soziale Sicherung wie in der gewerblichen und industriellen Wirtschaft.

Die Synthese zwischen dem kollektiven und individuellen Prinzip müsse im landwirtschaftlichen Organisationswesen gefunden werden. Kooperationen, Vereine und Genossenschaften sollten unter dem Dach von Selbstverwaltungskörperschaften des öffentlichen Rechts entstehen. Die Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme müsse in diesen Organisationen unter Mitwirkung und Mitbestimmung der Bauern, Landfrauen und Landarbeiter gewährleistet sein. Der Staat habe die wichtige Aufgabe, die erforderlichen Gesetze zu erlassen und deren Durchführung zu überwachen.

Mir wurde, während ich die Arbeit schrieb, bewußt, daß meine Hegelei zunächst unter einem Mißverständnis gelitten hatte. Während die Dialektik bei Hegel theologisch gemeint war, also ein Dialog zwischen dem rationalistischen und dem religiösen Bewußtsein, führte ich ihn zwischen zwei säkularisierten Ideologien durch. So klammerte ich die Religion als integrierten Bestandteil unserer abendländischen Kultur aus. In meiner Dissertation finden sich Sätze wie beispielsweise: Die Bedeutung der Religiosität in diesem Zusammenhang kann nicht hoch genug veranschlagt werden, und es bleibt von dem sozialwissenschaftlichen Standpunkt zu wünschen, daß die religiösen Kräfte ganz bedeutende neue Impulse erfahren. Aber in der gegenwärtigen deutschen und europäischen Situation im politisch-ökonomischsozialen Bereich plötzlich auf eine Hilfe der Religion zu warten, die sich in einem über Jahrhunderte erstreckenden Prozeß zu einem abgelösten Sonderbereich rückentwickelt hat, muß Schwärmern überlassen bleiben. Die soziale und wirtschaftliche Praxis wird sich darum bemühen müssen, für die auseinandergerissenen Pole in den sozialwissenschaftlichen Theorien [308] die nachkapitalistische Synthesis zu finden und in politisch-reformerischer Arbeit eine neue soziale Ordnung zu gestalten, in der jedem Mensch soviel Verantwortlichkeit für die Gesamtheit übertragen wird, wie er zu übernehmen bereit und fähig ist.

Und etwas später folgen die Sätze: Der Selbstbehauptung und Selbstentfaltung des Individuums müssen also die Verantwortlichkeit, das Gewissen und der ethische Wille zur Einordnung und Gerechtigkeit gegenüber stehen. Deswegen ist weder die Privatinitiative noch die individuelle Selbstaufgabe absolut zu setzen, sondern Ich-Entfaltung und Ich-Beschränkung, Behauptung und Hingebung müssen zugleich wirksam sein, was allerdings sittliche Kräfte und ein waches Gewissen im einzelnen voraussetzt.

Ich glaube, mich zu erinnern, daß es Max Weber, der deutsche Nationalökonom und Soziologe, war, der mich mit seiner Religionssoziologie auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht hatte. Seine idealtypische Erfassung gesellschaftlicher Erscheinungen und seine Form der Theodizee überzeugten mich davon, daß eine rationalistische und materialistische Analyse der Gesellschaft, wie sie dem Liberalismus und dem Marxismus zu Grunde liegt, nicht zu Leitbildern für eine Gesellschaftsordnung führen kann, in denen die Persönlichkeit des einzelnen sich frei entfalten kann und das Gerechtigkeitsprinzip den sozialen Frieden sichert. Max Weber ist es auch, der die besondere Nähe des Protestantismus zur kapitalistischen Wettbewerbsordnung festgestellt hat.

Die Grundsatzdebatte dieser Jahre wurde in der Agrarsozialen Gesellschaft von allen Gruppen des Landvolks, Vertretern der landwirtschaftlichen Institutionen und der Wissenschaft geführt. Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, Leitbilder für eine zukünftige soziale Agrarpolitik zu entwerfen. Dieser Aufgabe unterzogen sich die Mitgliederversammlung in Jugenheim 1949, die Frühjahrstagung in Göttingen 1950 und in Bad Homburg 1951. Eine Agrarreform hielten wir für nötig. Darin gab es keine Meinungsunterschiede. Sie dürfe jedoch nicht so, wie es sich in der Ostzone anbahnte, als Revolution von [309] oben nach sowjetischem Modell durchgeführt werden. Jede sozialistische Lösung münde letztendlich, so war unsere übereinstimmende Meinung, in einem gewalttätigen, bürokratischen Apparat, der die Eigeninitiative der Unternehmer ersticke. Wir entschieden uns für einen Weg, der zwischen der restaurativen und der revolutionären Lösung hindurchführt: für den Weg der Mitte, der sozialen Evolution, der Agrarreform.

Es war mir ein besonderes Anliegen, die Grundwerte, auf denen eine zukünftige Sozialordnung beruhen sollte, in unsere Diskussionen einzuführen. Mir schwebte dabei vor, dies auf der nächsten Frühjahrstagung zu tun, die 1952 in Altenberg bei Köln stattfinden sollte. Theologen der evangelischen und der katholischen Kirche hatten sich dieser Aufgabe in Vorträgen unterzogen. Pastor J. Doehring, der damalige Direktor der Evangelischen Akademie in Loccum, sprach zum Thema: "Der geistige Hintergrund bäuerlichen Denkens in der Gegenwart". Das zunehmende rationale Denken, die Technik auf dem Bauernhof und die sich abschwächende Tradition könnten negative ethische Folgen haben, sagte er. Diese drei geistigen Prozesse dürften aber nicht gestoppt werden. Sie könnten die auf dem Lande schwer arbeitenden Menschen entlasten und zu mehr Freiheit und individueller Selbstverwirklichung führen. Am wichtigsten sei es, die Bauern, Bäuerinnen und Landarbeiter durch eine bessere Bildung zu befähigen, rationalere unternehmerische Entscheidungen zu treffen und Herr der Technik zu bleiben.

Vom damaligen Domherrn und späteren Bischof H. Tenhumberg wurde die Tarifautonomie der Sozialpartner zur Regelung der Arbeitsbedingungen in den Lohnarbeitsbetrieben und die notwendige Umorientierung vom Patriarchat zur freien Partnerschaft in den Familienbetrieben hervorgehoben. Der Kern der katholischen Soziallehre sei das ordnungspolitische Prinzip der Subsidiarität.

Der Historiker Werner Conze führte aus, es sei die Eigenart des geschichtlichen Flusses, daß eine einmal als angemessen geltende Ordnung alsbald sich in ein unangemessenes, ver[310]knöchertes System wandele. Der unternehmerisch geführte Familienbetrieb müsse sich durch zwischenbetriebliche Zusammenarbeit in mannigfaltigen Formen auf dem Weg zur Vollmechanisierung selbst helfen.

In diesen Jahren wurden Leitbilder für eine soziale Agrarpolitik erarbeitet, die für meine wissenschaftliche Tätigkeit in der Agrarsozialen Gesellschaft und ab 1951 für meine beratende Tätigkeit in der damaligen Vorläufigen Landwirtschaftskammer Hannover verbindlich blieben. In Heft fünfundfünfzig der 'Schriftenreihe für ländliche Sozialfragen "Für die Menschen auf dem Lande"(16) sind sie breiter ausgeführt, als es in einer Familiengeschichte möglich und auch nötig ist. Die Schriftenreihe wurde viele Jahre von meinem akademischen Lehrer Wilhelm Abel herausgegeben.

Was der Weg der Mitte in der Gestaltung der ländlichen Gesellschaft für mich bedeutete, ist nicht rational zu begründen. Es ist nur aus der Tradition meiner bäuerlich-kaufmännischen und stets mittelständischen Familie heraus dem Leser andeutungsweise zu vermitteln. Die Systeme von Adam Smith und von Karl Marx mündeten zwangsläufig im Monopolkapitalismus mit Ausbeutung und Vermassung und in der Diktatur des Proletariats mit Zwangsarbeitslagern und Massenmorden. Beiden Gesellschaftssystemen stand meine Familie stets ablehnend gegenüber. Es ist in historischer Sicht kein Zufall und schon gar nicht unlogisch, daß sie bei unserer Enteignung zusammengewirkt haben. Wir mußten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ohnehin an zwei Fronten gegen die Enteignung durch das Monopolkapital und durch den Kommunismus kämpfen. Meine Familie hatte sich an der ersten Front behaupten können, war aber an der zweiten Front unterlegen.

Wilhelm Abel hatte mich wiederholt vor dem Elfenbeinturm des Glasperlenspiels gewarnt. Trotzdem möchte ich es aus meinem Leben nicht streichen. Die Praxis im Umgang mit der Weisheit alter, tief verwurzelter Bauerngeschlechter ließ mir über viele Jahre hinweg keinen Raum für theoretische Gedankenspiele. Zum Glück hatte ich sie in Göttingen vor[311]weg genommen. Mir schien der Weg der Mitte, wie ich ihn zu beschreiben versucht habe, der zwischen dem sinnlosen Kapitalismus und dem noch totalitäreren, menschenverachtenderen, bolschewistischen System hindurchführt, der richtige zu sein.


 
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letzte Aktualisierung: 30.07.2004