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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

[261]Während meine Geschwister außer Ursula selbständige Existenzen gründeten, Häuser bauten und begannen, in ihrer zweiten Heimat langsam Wurzeln zu schlagen, studierte ich in Göttingen. Bis zur Währungsreform reichte das Geld, das ich mit meinem Fuhrunternehmen verdient hatte. Der Winter 1947/1948 war hart. In meiner Studentenbude unter dem Dach eines Mehrfamilienhauses stand ein eiserner Ofen. Ich hatte in den Semesterferien in Bokel Torf gegraben und ihn säckeweise mit der Eisenbahn nach Göttingen transportiert. Dadurch brauchte ich wenigstens nicht zu frieren. Man darf glauben, daß die Stadtverwaltung von Göttingen damals etwas für ihre Studenten tat. Jeder von uns hatte den Anspruch auf einen Baum im Stadtwald. Meiner wurde mir auf dem Rohns gezeigt. Es war eine Buche, etwa sechs Zentimeter dick und fünf Meter hoch. Die könne ich mir im November schlagen, um Heizmaterial für den Winter zu haben. Zum Glück hatte ich mir als Torfstecher im Bokler Moor selber geholfen. Die Buche im Göttinger Stadtwald habe ich stehen gelassen.

Alle Studenten in Göttingen, die keinen landwirtschaftlichen Hintergrund hatten, hungerten in diesem besonders kalten Winter. Ich hatte aus Bokel ein oder zwei Säcke Kartoffeln mit nach Göttingen gebracht. Das war viel für damalige Verhältnisse. Das Mensaessen war mehr als dürftig, obwohl ich einen sehr großen Teil der Eßmarken dafür abgeben mußte. Mein damaliger bester Freund war Peter Schilke. Von irgendwoher hatte er einen halben Zentner Weizen besorgt. Den Sack mit diesem Schatz stellte er in meine Studentenbude. Kartoffeln und Weizen hatten wir also, und Heizmaterial auch. Auf meinem Ofen bereiteten wir so manch eine Mahlzeit, die den Magen mit Kohlehydraten füllte. Das schreibt sich alles so leicht hin. Wirklich begreifen kann das nur derjenige, der es selber erlebte. Uns hat diese Zeit geprägt.

Was Diktatur und was Krieg bedeuten, hatten wir am eigenen Leibe erfahren. Jetzt mit Geld, für das man so gut wie nichts [262] kaufen konnte, mit den Kartoffeln und dem Weizen hauszuhalten, das ging unter die Haut. Wie lange wird der Winter dauern? Reichen die Vorräte bis zur nächsten Ernte? Können wir es uns leisten, ein paar Weizenkörner mehr in der Kaffeemühle zu mahlen?, fragte mich Peter und ich ihn. Wir teilten unsere Vorräte christlich, wie wir sagten. Meiner Hauswirtin mußten wir noch Kartoffeln abgeben, sonst hätte sie mir die Mansarde nicht vermietet. Sie und ihr Mann hungerten auch. Wer wollte es ihnen verübeln, wenn sie für das knappe Gut Wohnraum möglichst viele Nahrungsmittel herausschlagen wollten? Die Mieteinnahmen waren in Bezug auf die begehrten Güter nichts wert. Was wir erlebten, drang nicht nur in den Verstand ein. Es prägte alle Sinne, setzte neue Prioritäten, machte uns für die Armen sensibel, die nur von der Hand in den Mund leben.

Die elementare Gefährdung unserer Existenz erfüllte mein Studium mit einem tieferen Sinn. Es sollte mich befähigen, in meinem zukünftigen Beruf für eine Gesellschaftsordnung eintreten zu können, deren oberste Werte Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind. Die Rigorosität, mit der ich diese Meßlatte an die Vorlesungen legte, mit der ich in den Hörsälen diskutierte, brachte mir sehr bald den Spitznamen "der rote Krüger" ein. Über mir völlig unerklärliche Kanäle ist dieser Ruf, der von meinen als Bauern- und Gutsbesitzersöhne überwiegend konservativen Kommilitonen als Brandmarkung, als eine Art "Judenstern" gedacht war, auch zu meiner Familie gelangt. Das war schlimm genug, denn es war für mich nicht leicht zu verkraften, von den Menschen, mit denen ich das Gespräch suchte, gleich in ein bestimmtes politisches Schubfach geworfen zu werden. Viel schlimmer war für mich, daß dieser Spitzname auch in dem Haus Göttingen, Kreuzbergring Nr. 1 bekannt wurde, in dem eine bürgerliche Familie Grünewald wohnte. Warum mir das besonders unangenehm war, hatte eine Vorgeschichte, die ich gleich erst einmal erzählen will.


 
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© 2000   Volker J. Krueger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004