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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Schwarze Liste

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Noch im Juni fuhr ich zu einem Wochenendurlaub nach Altthorn. Ich wollte mit meinem Vater über die Fortsetzung meiner Berufsausbildung sprechen, denn ich hatte mich entschlossen, Landwirtschaft an der Technischen Hochschule in Danzig-Langfuhr zu studieren, nachdem mein Elevenjahr in Hochheim zum 31. August 1939 beendet sein wird. Mein Vater war zu solchen Gesprächen nicht aufgelegt. Mehrere Versuche waren erfolglos. Er wollte keine längerfristigen Zukunftspläne machen. In dem, was er sagte, und in seinem Gesichtsausdruck war er zutiefst verwandelt, besser gesagt betroffen. Es käme darauf an, sagte er, die Lage zu analysieren und den eigenen Standort in ihr zu erkennen. Sie sei so düster und furchterregend wie nie zuvor in seinem Leben. Es werde zu einem Krieg kommen. Hitler sei der einzige in Deutschland und vielleicht sogar in Europa erfolgreich agierende Politiker. Er habe das deutsche Volk mit seiner Demagogie und seinen verblüffend klaren und logischen Argumenten in seinen Bann geschlagen. Mein Vater fürchtete, Hitler werde durch seine bisherigen Erfolge geblendet in den Verhandlungen mit Polen keinen Kompromiß anstreben. Polen seien ein äl[157]teres Staatsvolk als die Tschechen. Sie würden kämpfen und ebenfalls keiner Verhandlungslösung zustimmen. England und Frankreich würden sich auf die Seite Polens schlagen. Dann hätten wir die gleiche Situation wie vor dem Weltkrieg. Deutschland würde isoliert zwischen Ost und West stehen.

Die politische Lage war nicht das, was meinen Vater zutiefst bewegte. Er kam immer wieder auf die Maximen seines Lebens zurück, wollte von mir anderes gefragt werden und Antworten von größerem Gewicht geben. Als ich das merkte, wollte ich wissen, mit welchen Werten er sich identifiziere. Er antwortete, ich solle ihn fragen, welche Werte ihm wichtiger seien als das Leben. Mir lief es heiß und kalt über den Rücken. So hatte ich noch nie mit meinem Vater gesprochen. Jetzt bist du in seinen Augen ein erwachsener Mann. Ohne auf meine Frage zu warten, sagte er, daß er nichts von Menschen halte, die in der Gefahr nur die eigene Haut retten wollten. Ihm sei es mit dem zweiten Vers des Feuerspruchs sehr ernst gewesen, den er bei der Geburtstagsrede im Hause von Marohns zitiert habe. Er identifiziere sich mit seinem Haus, seiner Familie, seiner Heimat, die die Niederung sei. Der deutsche Mensch könne seit Luther im tiefsten Sinne nur ein frei handelnder Mensch sein, wenn er mit seinem Gewissen ohne Vermittlung von irgendwelchen Institutionen Gott gegenüber trete. Als Mitglied des Vorstandes der evangelischen Gemeinde habe er darauf geachtet, daß seine Kinder zu gläubigen Christen erzogen werden und er selber durch regelmäßigen Kirchgang für diejenigen ein Vorbild sei, die des Haltes durch die Kirche bedürften. In religiösen wie in politischen Fragen tolerant zu sein, sei für ihn ein hoher, wenn nicht sogar der höchste Wert. Er würde in seinem Haus, bei seiner Familie, in seiner Heimat bleiben, da möge kommen, was da wolle. Dort habe ihn Gott hingestellt. Er würde ihn auffangen, wenn er fallen sollte.

Als mein Vater aus dem Wohnzimmer gegangen war, um auf dem Hof eine Anweisung zu treffen, sagte meine Mutter, der Sohn unseres Volksschullehrers Hans Schedler habe unserem Papa [158] gesagt, daß er auf der schwarzen Liste stehe. Er war im Dunkeln heimlich durch die Wiesen zu unserem Haus gekommen, weil er wußte, daß es rund um die Uhr von Polizeispitzeln bewacht würde. Die polnischen Behörden haben solche Listen aufgestellt und auf ihnen Männer registriert, die im Kriegsfall interniert werden sollten. Ich dürfe meinem Vater nichts davon sagen, denn er möchte mich damit nicht belasten. Sie sei aber um ihn in großer Sorge.

Am nächsten Tage brachte mich Bruno mit dem Einspänner nach Thorn. Auf der fast einstündigen Fahrt gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Es ist an der Zeit, sich von Jugendträumen, Selbstverwirklichungsstreben zu lösen und der Wirklichkeit ins Auge zu sehen. Mein Vater hatte mir den Blick für sie geöffnet. Er sah als kluger, im Leben stehender Mann weiter als ich. Er wollte mich nicht mit dem belasten, was er wie eine Lawine auf uns zurollen sah. Mir war er als ein Mann erschienen, an dem man sich nicht in unreifem Ablösungsstreben und in Profilierungssucht hätte reiben können. Er machte den Eindruck, als ob er wüßte, daß seine fünf Kinder hofften, Hitler würde Deutschland aus dem Labyrinth herausführen, hatte selbst aber keine eindeutige Position bezogen. Es war sehr einsam diesmal in Altthorn. Landleben ist schön, dachte ich, wenn man ein großes Haus führt, in dem viele Menschen zusammen arbeiten, leben, feiern. Wie schnell hatte sich alles verändert. Altthorn war ein winziges, kleines Nest. Mitten darin eine Familie, in deren glückliches Leben die große Politik jäh und brutal eingebrochen war. Die Veranda, auf der sich im Sommer das Leben abspielte, war leer. Der runde Tisch, die Korbstühle, die Blumenkästen, ja selbst die Ampel darüber, in der einmal ein Fliegenschnepperpärchen seine Jungen ausgebrütet und großgefüttert hatte, strahlten diesmal keine Wärme, kein Leben aus. Die Kaffeestunden, die meine Mutter so liebte und bei denen sie sich allzu gerne in Tauber- und später Kiepura-Seligkeit versetzen ließ, waren ausgefallen. Oma Hermine war tot, Edith hatte Herbert Feldt geheiratet und war nach Pensau gezogen. Wie schon bei unzähligen Generationen vor 159] uns fanden anläßlich der Hochzeit und der Beerdigung Gottesdienste in unserer Gursker Kirche statt. Pfarrer Anuschek hatte sich bald nach dem spektakulären Diebstahl in seinem Hühnerstall nach Schönsee versetzen lassen und war dort nach einer erregten Karfreitagspredigt in der Sakristei gestorben. Für ihn war Pfarrer Dey aus Thorn gekommen.

In der Straße, die zum Stadtbahnhof führt, ließ ich Bruno anhalten und schickte ihn nach Hause. Ich ging zwei Treppen zu Gerdas Pension hinauf. Das nüchterne Drum und Dran des Treppenhauses und des Zimmers, in dem sie wohnte, ihre kühle Zurückhaltung bei der Begrüßung hatten mich enttäuscht. Jedenfalls trug der Besuch bei meiner Freundin nicht dazu bei, mich aufzuheitern. Es war ein Höflichkeitsbesuch, der über Konventionen nicht hinausging. Ich konnte und wollte wohl auch nicht darüber sprechen, was mich bewegte. Es war, als ob eine gläserne Wand zwischen uns stand. Gerda brachte mich zum Stadtbahnhof, von wo ich nach Hochheim abfuhr. An der Sperre sagte ich: Mein Lehrjahr wird im August zu Ende sein. Im Wintersemester hoffe ich, mit dem Studium in Danzig beginnen zu können. Gerda blickte mich entgeistert an und fragte: "Ist das alles? Ist das alles, was Du mir sagen möchtest?" Ja, mehr kann und will ich nicht sagen. Ich wußte damals nicht, welche Folgen ein nicht zur rechten Zeit gesprochenes Wort haben kann. Eine romantische Schülerliebe kann daran zerbrechen.


 
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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004