HEIM@THORN Editorial - Inhalt Die Thorner Stadtniederung - Inhalt Das Buch - Inhalt
Quelltexte - Inhalt Anhang - Inhalt Die Links Die Heim@Thorn-Suchmaschine

Wappen der Familie Krüger aus Thorn  

Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger

Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Preußisch, evangelisch, modern

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Und mit diesem Zeichen macht der Herausgeber dieses Dokuments auf Fragen auf-
merksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.


Wenn ich bisher aus den knappen schriftlichen Überlieferungen versucht habe, ein Bild der Vorfahren zu entwerfen, so lief es stets auf die Beschreibung ihrer Reaktionsweise auf die Ereignisse der Umwelt hinaus. Daraus könnte der Eindruck entstehen, als ob meine Familie vom Mittelalter bis zu den Freiheitskriegen ein passives Objekt des äußeren Wandels der Systeme, der Kriegsereignisse und der Gefahren gewesen wäre, die von der damals noch unregulierten Weichsel ausgingen. "Das Sein bestimmt das Bewußtsein", sagte Karl Marx. Diese Philosophie scheint bestätigt zu sein, weil die von mir zitierten Quellen sehr viel über die äußeren Ereignisse und fast nichts über die Motive des Verhaltens der Menschen aussagen. Die Biographie eines Bauern und einer Bäuerin, die ihren Hof bewirtschaften, fünf oder sechs Kinder erziehen, ist nur bei oberflächlicher Betrachtung uninteressant. Ihr Leben spielt sich zwischen Arbeit und Feier, Selbstbehauptung und Resignation, Glück und Leid ab. Die Motive des Verhaltens dürfen in einer Familienchronik nicht zu kurz kommen.

Nach dem Wiener Kongreß begann für meine Vorfahren eine lange Friedensperiode, in der sie das Glück hatten, aus eigener [39] Kraft heraus den atemberaubenden Prozeß der Modernisierung aller Lebensbereiche aktiv mitzugestalten. Preußen war an der endgültigen Niederwerfung Napoleons maßgeblich beteiligt. Das Volk war aufgestanden und hatte das französische Joch abgeschüttelt. Die liberalen Agrarreformen brachten den Höfen meiner Vorfahren in Altthorn, Gurske und Amtal die Überführung der Erbpacht in privates Eigentum. Aus heutiger Sicht ist es kaum zu ermessen, was es für sie bedeutet hatte, Herr auf der eigenen Scholle zu sein, die Parzelle für Parzelle vermessen und in das Kataster eingetragen wurde. Für uns ist das Privateigentum eine solche Selbstverständlichkeit geworden, daß wir uns kaum noch in das gegenwärtige Agrarsystem östlich des eisernen Vorhanges hineindenken können. Die Ideen des Liberalismus hatten sich bei den Vätern dieser Reformen, bei vom Stein und v. Hardenberg, durchgesetzt. Der preußische Staat hatte mit einem Befreiungsschlag das mittelalterliche Feudalsystem zerstört.

Es sind also Ideen gewesen, die den Urgrund des historischen Wandels bildeten. Sind sie es allein? Das wären sie geblieben, wenn die bäuerlichen Familien, auch die meiner Vorfahren, die neuen Institutionen nicht mit Leben erfüllt hätten. Die Rechte der Thorner Kämmerei mußten abgelöst werden. Es sei zugegeben: Sie waren nicht so erniedrigend wie die der polnischen Adelsgüter und Grundherrschaften. Aber so wohlhabend waren meine Vorfahren damals auch nicht, daß sie ihre Gebäude aus dem Sparstrumpf heraus hätten bezahlen können. Sie mußten es lernen, mit kurzfristigen Verbindlichkeiten, Krediten und Hypotheken zu wirtschaften. Die bürgerlich-bäuerliche Revolution setzte die Modernisierung in Gang. Ein Keil trieb den anderen. Die Gesellschaft veränderte sich von Grund auf. Die Familie war nicht mehr zum passiven Erdulden verurteilt, sie war Motor des Modernisierungsprozesses geworden. Die Kinder wurden in die Gursker Volksschule geschickt. Wer nicht lesen, schreiben, rechnen und Religion lernen wollte, wurde nicht viel gefragt, er mußte. Das Thorner Gymnasium war mit seinen jährlich ver[40]besserten Lehrprogrammen geisteswissenschaftlich ausgerichtet. Die Zahl der Schüler war gering und die der Abiturienten um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchschnittlich fünf im Jahr. In diesem Zeitraum wandte sich fast ein Drittel von ihnen dem juristischen, ein Viertel dem medizinischen und ein weiteres Viertel dem theologischen Studium zu. Der Rest studierte Philologie und Philosophie.

Für die Entwicklung einer rationelleren Landwirtschaft waren im Lehrplan des Thorner Gymnasiums keine Ansatzpunkte zu finden. Die Schlußfolgerung meiner bäuerlichen Vorfahren: Der Hoferbe wurde zur Volksschule in Gurske geschickt. Die nachgeborenen Söhne konnten, wenn sie es wollten, zum Gymnasium gehen. Besser für sie und für die Töchter war es, in einen Nachbarhof einzuheiraten. Das landwirtschaftliche Fachwissen vermittelte ihnen der Vater. Daneben erlernten sie fast alle ein Handwerk. Zur fortführenden Schule zu gehen, auf diese Idee kam im 19. Jahrhundert keiner meiner Vorfahren.

Schon längst war die Vernunft, der gesunde Menschenverstand in das private Leben meiner Familie eingezogen. Es ist ein fest eingewurzeltes Vorurteil, daß erst mit den Naturwissenschaften und der Technik des 19. Jahrhunderts der Modernisierungsprozeß eingeleitet worden ist. Er wuchs aus dem Schoß der bäuerlich-handwerklichen Familie heraus. Wenn die landwirtschaftliche Produktion nur die Selbstversorgung der Familie deckte, erbrachte sie darüber hinaus handwerkliche Dienstleistungen oder setzte kleingewerbliche Erzeugnisse auf dem Thorner Markt ab.

Auf der Suche nach den Gründen eines so offensichtlich rationalen Verhaltens stieß ich auf die Theorie von Max Weber. Sie lief darauf hinaus, daß nicht die Schule die entscheidenden Impulse zur Einleitung des Modernisierungsprozesses gegeben hatte, sondern das evangelische Pfarrhaus. Die protestantische Predigt, so Weber, hämmerte dem evangelischen Christen ein, diszipliniert, antitraditionell, individualistisch und rational zu sein. So habe die protestantische Ethik mit ihrem "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott." zur [41] Modernität und schließlich auch zum privatkapitalistischen Bewußtsein geführt. Bestätigt wird diese religionssoziologische Theorie durch die Entwicklung des kapitalistischen Systems in den protestantischen Ländern wie beispielsweise in Preußen, England und in den Vereinigten Staaten. Die Volksschule, in der oft ausgediente Unteroffiziere der preußischen Armee unterrichteten, stützte den Bewußtseinswandel, hatte ihn aber nicht eingeleitet.

Ein neuer Impuls für die Anwendung der Vernunft in der Führung des landwirtschaftlichen Betriebes ging von einer jungen wissenschaftlichen Disziplin aus. Sie wurde die Kameralwissenschaft genannt. Einer ihrer Väter ist der aus Celle stammende Arzt Albrecht Daniel Thaer. Der Professor an der Universität in Berlin veröffentlichte in seinem "Leitfaden zur allgemeinen landwirtschaftlichen Gewerbslehre"(7) neue Thesen zur rationellen Gestaltung des Bauernhofes. Er forderte die Landwirte auf, ihre Betriebe so zu bewirtschaften, daß über die Selbstversorgung hinaus ein möglichst hoher Gewinn aus der Marktproduktion erreicht wird. Thaer ging noch einen Schritt weiter und lehrte, daß über die klassischen Produktionsfaktoren Arbeit, Boden und Kapital hinaus die Intelligenz die anderen Faktoren in ein optimales Verhältnis zueinander zu bringen vermöge. Die Ratio sei: Kenntnis und Künstlertalent.

Zwei Generationen meiner Familie wurden im Sandkrug geboren, mein Urgroßvater Joachim und mein Großvater Adolf Heinrich Krüger. Damit nähern wir uns der Zeit, in der ich auf Erinnerungen der Familie fußen kann. Ein wie großes Wagnis es ist, Ereignisse und Schicksale aufgrund nüchterner Urkunden und kirchenamtlicher Daten zu erzählen, wird mir erst nachträglich bewußt. Der Leser wird mir verzeihen, wenn ich versucht habe, hier und da eine kleine Geschichte um das historisch verbürgte Ereignis herum zu spinnen. Das ist maßvoll geübt eine zulässige Verletzung der Wahrheitspflicht, die ich mir auferlegt habe. Das haben meine bäuerlichen Vorfahren auch getan, wenn sie an den langen Winterabenden vor den Kaminfeuern saßen und das Spinnrad surren [42] ließen. Hat etwa der Enkel seiner Großmutter einen Vorwurf gemacht, wenn sie ihre "wahren" Geschichten etwas ausgeschmückt hatte? Das Leben war, wie wir sahen, hart und, wenn Heerhaufen wie die Heuschreckenschwärme in die Niederung einfielen, grausam. In den Napoleonischen Feldzügen lagen manchmal bis zu zweihundert Soldaten auf einem unserer Bauernhöfe. Was ist dabei alles geschehen? Selbst die blühendste Phantasie der Großmütter reichte nicht aus, das Leben, wie es wirklich war, bis in alle verschwiegenen Winkel der Häuser, der Heuböden und der Herzen auszuloten. Dem Enkel wird sowieso nur die Hälfte von dem erzählt, was wirklich vorgefallen war. Was aber in ihrer Sicht erzählenswert war, das wurde kräftig übertrieben, im Guten und im Bösen.

Jottchen, der Jerechte, wer wird schon jedes Wort auf die Joldwaage legen. Die Sprache war umständlich, die Verben im Satz weit nach vorne gerückt, und die Substantiva hatten gemütvolle, verkleinernde Endungen: Tantchen, Vatchen, Flüßchen, Herrchen, Lehrerchen. "Für wen", fragt da der Rektor Ratz bei seiner Schulinspektion, "und aus welchem Grund wird gesungen das Liedchen?" Natürlich für ihn, für wen denn sonst. "Was ist das für ein Zustand. Ich sehe diverse Zöchlinge in Not. Warum stochern, bitte schön, sie in dem Latrinchen herum?" Diese Sprache aus "So zärtlich war Suleyken" von Siegfried Lenz war auch die Sprache meiner Vorfahren im 19. Jahrhundert, wenn sie aus dem Niederdeutschen ins Hochdeutsche fielen. Sie hatte slawische Sprachformen und Satzstellungen aufgenommen. Das war der hochdeutschen Sprache sehr gut bekommen, bei der man den Anfang des Satzes schon vergessen hatte, ehe ganz zum Schluß das Verbum folgte.

Die bäuerliche Wirtschaftsform mittelbäuerlicher Betriebsgrößen hatte über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten meine Familie geprägt. Alle Kräfte, die auf sie einwirkten, erlebten sie gemeinsam: die ständige Bedrohung durch eine ungezügelte Natur, die mit Ausnahme von Kriegszeiten gesicherte Rechtsordnung, die ständige Gefährdung durch äußere Feinde und den engen Zusammenhalt in der Fa[43]milie beim täglichen bäuerlichen Tagewerk. Dadurch hatten sich Sitten und Gebräuche herausgebildet, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Und doch hatte unter dem Einfluß eines ungebundenen Lebens auf den Einzelhöfen der einzelne eine unverwechselbare Individualität. Gearbeitet haben sie alle, schwer gearbeitet, nur um die Grundbedürfnisse der Familie zu befriedigen: Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Oft wurde ihnen auch dies noch gewaltsam weggenommen. Dann mußten sie wieder vom Nullpunkt beginnen. Ihre bäuerliche Wahrheit war die Gewißheit, daß sie vor den Plünderern, irgendwo an einem Platz, den diese nicht kannten, einige Hühner, einen Sack Mehl, vielleicht sogar eine Kuh versteckt hatten. Dies genügte für einen neuen Anfang. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß sie die christlich motivierte Hoffnung verloren haben, auch dann nicht, wenn nach menschlichem Ermessen kein realer Grund zur Hoffnung mehr bestand. In aussichtslosen Lagen haben sie erst recht die Ärmel aufgekrempelt. Wenn die Lage völlig aussichtslos war, dann entfalteten sie die größten seelischen Kräfte.

Wenn im Frühjahr das Hochwasser drohte, war es für die Männer ein großes Abenteuer, die Wachhäuser zu beziehen, die von der preußischen Wasserbauverwaltung auf dem Deich aufgebaut worden waren. Ich kann die Gefühle nachempfinden, die meinen Großvater Adolf Heinrich bewegt hatten, wenn er als Deichhauptmann die Strauchbunde, im Volksmund Faschinen genannt, und die Sandsäcke inspizierte, die jeder Weichselanlieger vorsorglich auf dem Damm einlagern mußte. Mein Großvater mußte dann, wenn das Wasser kam, die einzelnen Posten kontrollieren und darauf achten, daß die feuchtfröhliche Stimmung nicht zu hohe Wellen schlug. Die Wachen mußten rund um die Uhr ihren vorgeschriebenen Dienst tun. Mein Talent reicht nicht aus, die Atmosphäre in der Niederung bei einem gefährlichen Hochwasser zu schildern. Wenn der Leser sich einen Eindruck von der Angst verschaffen will, die langsam mit der Gefahr eines Dammbruchs wuchs, sollte er Max Halbes Drama "Der Strom" lesen oder auch seine Erinne[44]rungen "Scholle und Schicksal"(8). Alle erwachsenen Männer der Familie mußten sich in der Dammwache abwechseln. Am Tage vergaß man die Angst, aber abends, wenn das Kaminfeuer brannte und die Großeltern ihre Erinnerungen an die großen Überschwemmungen herauskramten, dann wurde es unheimlich. Die alten Männer waren sonst maulfaul. Wenn sie die verängstigten Augen der kleinen Kinder sahen, wie sie sich an ihre Mutter herandrängten, wollten die furchtbaren Geschichten überhaupt kein Ende nehmen.

Meine Vorfahren hatten in diesen Momenten, aber nicht nur dann, ein Gefühl für Gottnähe entwickelt. Der Tod war natürlich. Mensch und Tiere waren für sie nur Gäste auf dieser Welt. Wenn jemand aus der Familie gestorben war, wurde getrauert. Sein Grab wurde auf dem Kirchhof gepflegt. Die Toten waren nur unsichtbar. In ihrem Bewußtsein war die Wand durchlässig, durch die sie von ihnen getrennt waren.

Mein Großvater Gustav Huhse, der Vater meiner Mutter, hat mit seiner Frau gesprochen, wenn er ihr Grab pflegte. Gleich neben der Grabstelle der Huhses war ein Mausoleum einer Thorner Sippe, die durch die Pest ausgelöscht worden war. Dies war der Lieblingsplatz meines Großvaters. Wenn er bei der Grabpflege Pause machte, setzte er sich grundsätzlich in das feuchte Gewölbe und legte sein Frühstücksbrot auf einen der zahlreichen dort stehenden Särge. Gefühlsroheit, Pietätlosigkeit: Ich glaube es nicht. Mit den Toten der Familie wurde kein Kult getrieben. Auch in dieser Hinsicht waren meine bäuerlichen Vorfahren nüchtern. "Das Leben geht weiter", sagten sie, wenn jemand gestorben war, und fügten bekräftigend hinzu: "schlimm, schlimm, es könnte schlimmer sein. Wer weiß, wozu es gut ist." Die Umwelt hatte sie zu Stoikern gemacht.


 
zurück: Die ausübende Gewalt hat uns alles genommen
weiter: Schimmelkrause
   

HEIM@THORN Editorial - Inhalt Die Thorner Stadtniederung - Inhalt Das Buch - Inhalt
Quelltexte - Inhalt Anhang - Inhalt Die Links

© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004