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Modeste Weidendahl: Ich schenk euch Bendomin  


Rathausturm mit Copernicusdenkmal

Modeste Weidendahl

Ich schenk euch Bendomin

Erinnerungen an Westpreussen, München 1980



Lizenzausgabe Lübbe Verlag 1984, 1984 ISBN 3-404-10450-1

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Fundstellen, meine engere Familie betreffend

Die Zahl in blauer eckiger Klammer, z.B.: [23], bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.

[172] Mein Bruder Joachim [Joachim Dahlweid] hatte inzwischen seine Fühler bis in den Kreis Thorn ausgestreckt - er half zur Zeit meinem Vater bei der Bewirtschaftung von Bendomin, um die durch die Parzellierung neu auftauchenden Schwierigkeiten zu mildern. Er hatte das große Glück, eine Frau zu finden, die eine heimliche Königin war.

Wie die Königstöchter in Grimms Märchen, konnte sie Stroh zu Gold spinnen. Alles, was sie anfaßte, gelang, verwandelte sich zum Guten, [173]  blühte auf, ordnete sich, und dieses Talent verlor sie nicht bis ins Alter. Das war Irmgard Helwig [Ursula Krüger] aus Alt Thorn. Die Helwigs [Krügers] waren ein altes Bauerngeschlecht. Hans Helwig [Hans Krüger], dessen Trauurkunde als ältestes amtliches Dokument der Familie vorlag - die Trauung fand 1627 in der Gursker Evangelischen Kirche statt -, war Bauer in Alt Thorn. Das Geschlecht hatte einen Bürgermeister von Thorn, einen Ratsmann und einen römischen Ritter, vier Kirchenälteste in der Gursker Evangelischen Kirchengemeinde, einen preußischen Deichhauptmann, einen Landwirtschaftskammer- und Kreistagsabgeordneten hervorgebracht. Im zivilen Beruf waren neun direkte Nachkommen von Hans Helwig [Hans Krüger] von 1627 bis 1945 Bauern in der Thorner Weichselniederung.

Das also war über drei Jahrhunderte möglich gewesen: daß ein deutsches Geschlecht durch viele Wirren und Kriege und Teilungen seines Staates hindurch überleben, seinen Besitz behalten, ihn mehren und ausbauen konnte, mal preußisch wurde, mal polnisch, mal unter französische Oberherrschaft kam und doch immer deutsch blieb und deswegen niemand anderen erschlug und auch von niemand anderem erschlagen wurde.

[180] Sechstausend Volksdeutsche - Zivilisten - mußten in den ersten Kriegstagen ihr Leben lassen (Hitler hat später offiziell diese Zahl auf das Zehnfache erhöht angeben lassen). Und was die Weidendahls [Dahlweids] und ihre Verwandtschaft betraf, so zählte zu denen, die auf dem berüchtigten 'Marsch nach Warschau' von Polen erschossen oder erschlagen wurden, Joachim Helwig [Joachim Krüger], der Schwiegervater meines Bruder Joachim, der Vater von Irmgard [Ursula].

 Joachim Helwig [Krüger] war lange Zeit Vorsitzender des Landwirtschaftlichen Vereins für den südlichen Teil Westpreußens gewesen. Durch meine Schwägerin habe ich später erfahren, wie ihr Vater ums Leben kam.

 Joachim Helwig [Krüger] wurde als polnischer Staatsbürger deutscher Nationalität in der Nacht zum 1. September 1939 verhaftet und in Thorn ins Gefängnis eingeliefert; dort waren schon viele Deutsche, die sich für die deutschen Belange in Polen besonders eingesetzt und verdient gemacht hatten. In der folgenden Nacht marschierten die in[181]haftierten Deutschen unter starker Bewachung von bewaffneten Jugendlichen und Militär in Richtung Warschau. Tagsüber kampierten sie ohne ausreichende Verpflegung in Ställen, nachts wurden die Frauen und Männer in Richtung Alexandrowo weitergetrieben. In der Nacht zum 4. September begann bei Podzamcze eine willkürliche Schießerei: Die Deutschen wurden gezwungen, sich auf den Boden zu werfen, die Köpfe zu heben, und zweiundzwanzig Männer wurden von den Machinengewehrsalven tödlich getroffen. Hier in Podzamcze endete auch für Joachim Helwig [Krüger] der Todesmarsch. Die Toten blieben liegen und wurden später von Dorfbewohnern in einem Massengrab beerdigt. Pfarrer Dey aus Thorn holte mit Unterstützung des deutschen Konsulats die Toten nach Thorn, die nur schwer identifiziert werden konnten, zum Teil nur an Stoffresten und Gegenständen. Sie wurden vor dem Rathaus in Thorn aufgebahrt, mit einem Staatsakt geehrt und am 22. September 1939 in einem Massengrab auf dem Altstädtischen Friedhof in Thorn beigesetzt.

[182] Auf den Thorner Marsch nach Warschau gingen dreihundertzwölf Menschen. Einhundertachtundsiebzig sind lebend zurückgekommen. Einhundertvierunddreißig starben eines gewaltsamen Todes.

[191] Aber noch war ich in Bendomin, und es erhob sich die Frage, ob mein Vater weiter das Gut bewirtschaften oder es meinem Bruder Joachim überschreiben sollte und seiner Frau Irmgard [Ursula]. Wäre Joachim Besitzer geworden, hätte man mit einer sofortigen Einziehung zur Waffen-SS rechnen müssen, da der Staat mit Fug und Recht sagen konnte: Da ist ja noch ein alter Vater, der bisher das Gut verwaltet hat, also kann man den Sohn nicht u.k. (unabkömmlich) stellen.

Viele der polnischen Güter im gesamten Umkreis waren, als ihre Besitzer wie vom Erdboden verschwanden, ohne Verwalter. Da geschah etwas, was mir, sooft ich daran denke, noch heute einen Schauder den Rücken hinunterjagt. Das Gut Preetz wurde frei - das Gut, auf dem einst meine Mutter als Erzieherin gewirkt hatte -, und mein Bruder Joachim mit seiner Frau Irmgard [Ursula] wurde von der 'Reichsland' angewiesen, die Verwaltung zu übernehmen. Ich hatte das Gut noch nie betreten. Jetzt, als mein Bruder hinbeordert wurde, fuhr ich mit ihm hin.

Es war, als käme man in das Haus eines Toten, der nicht Zeit gehabt hat, die Spuren seines Lebens zu verwischen. Die Küche schien gerade verlassen, die Töpfe und Tassen standen noch auf dem Tisch und auf den Borden, nur die Glut im Herd war ausgegangen, die Schränke waren voller Wäsche, die Tischdecken verrutscht, die Blumen am Welken. Das Vieh brüllte in den Ställen, und die Hunde jaulten an ihren Ketten.

Damit nicht alles zugrunde ging, mußte jemand sofort zupacken, Pferde waren da, vereinzelt auch Leute, sie kamen zögernd aus ihren Hütten, ihre Verängstigung legte sich bald: Mit meinem Bruder war ja nun wieder ein Chef da, der, wie man in Bayern so schön sagt, 'anschaffte'.

Nach zwei Jahren, in denen Joachim und seine Frau hart gearbeitet hatten, waren Haus, Hof und Garten nicht wiederzuerkennen, und mein Bruder war immer noch u.k. gestellt. Der erste Sohn Rüdiger wurde am 26. Oktober 1943 geboren, und Glück und Zufriedenheit herrschten in Preetz.

[214] Ja, der Vater, nun 67 Jahre alt, regiert noch auf Bendomin, während Jochem, mein Bruder Joachim, von Irmgard [Ursula], seiner Frau, in Groß Preetz sein erstes Kind erwartet - den Sohn Rüdiger. Mein Vater hatte seinen Enkel. Aber dann, die Grenzen des Krieges sind weit hinausgeworfen, der Höhepunkt ist längst überschritten, da sollte noch einmal eine Wunde sein Herz treffen, die schwerer war als der Verlust der Heimat: der Tod seines einzigen Sohnes Joachim.

[258] Irmgard [Ursula], die Frau meines Bruders, flüchtete am 28. Januar 1945, also einen Tag nach unserem Aufbruch in Schönwalde. Sie stieg zusammen mit ihrer Mutter [meiner Großmutter], die mit ihrem Treck aus Alt Thorn zu Irmgard [Ursula] geflüchtet war, in Berent in einen Viehwaggon, den kleinen Rüdiger an der Hand, ein ungeborenes Kind unter dem Herzen. ... Irmgard bekam einen Zug nach dem Westen, und Nachricht von ihr gelangte zu meiner Schwester Sabine in Oldenburg, der einzigen in unserer Familie, die wohl ihre Heimat verloren hatte, nicht aber ihr Zuhause - ihre Adresse war der Knotenpunkt, über den wir überhaupt voneinander etwas erfahren konnten. ... Irmgard mit ihrer Mutter und dem Treck ihrer Schwester [Edith] landete in Bokel. Am 27. April gebar Irmgard [Ursula] ihren zweiten Sohn, Horst. Von meinem Bruder Joachim war keine Spur mehr zu finden.


 

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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 10.12.2007