HEIM@THORN Editorial - Inhalt Die Thorner Stadtniederung - Inhalt Das Buch - Inhalt
Quellen - Inhalt Anhang - Inhalt Die Links
Auf der Flucht  


Auszüge aus der Biographiearbeit von

Renate Tetzlaff, geb. Hagen





Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Auf der Flucht

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.

Der Schnee lag hoch und es war bitterkalt. Auf unserem Hof in Gurske war man so merkwürdig emsig beschäftigt. Geheimnisvoll wurde etwas vorbereitet.

Mutter und Knechte rannten mit Sachen über den Hof. Es wurden Eimer und Kisten geschleppt und auf umgebauten Kastenwagen verstaut. Eilig wurden noch ein paar Kisten heimlich in der Scheune vergraben. Da sei das wertvolle Silber und Kristall aufbewahrt. Die Wagen waren eng bepackt mit Kisten mit Dokumenten, Bettzeug, Decken, Pelzen, Vorräten, Lebensmitteln wie Speck, Schinken, Mehl und Zucker, Brot, Butter, in Salz eingelegten Eiern in Steintöpfen und vielem mehr. Dick eingemummelt mit Zipfelmütze kam ich auf einen Wagen, der nun ein rundes Dach mit Teppichen bekommen hatte. "Wir sind soweit. Es kann losgehen!" höre ich meine Mutter sagen.

Am 20. Januar 1945 bei 20 Grad Frost beginnt die Flucht, der große Treck, mit unbekanntem Ziel nach Westen. Mit 3 Wagen und 6 Pferden ziehen wir vom Hof.

Auf dem ersten Wagen sind Oma und Opa Knodel, auf dem zweiten Mutti, Lothar und ich. Der dritte ist mit Futter für die Pferde und Kisten mit Kleidung und Wäsche beladen. Die Kutscher Jannek und Frannek Gallant begleiten uns. Mein Vater muss zurückbleiben. Er darf den Ort noch nicht verlassen. Er will auf dem Fahrrad nachkommen. Ich bin jetzt 5 Jahre alt.

Vaters Mutter war ja schon 1944 mit 73 Jahren an Husten gestorben. Ich weiß noch, als meine Eltern zur Beerdigung nach Palsch fuhren. Da war aber noch Vaters Vater mit 85 Jahren. Was sollte mit ihm werden? Er entschied sich, in der Heimat zu bleiben. Er sagte seinem Sohn Kurt, dass er die Flucht nicht mehr auf sich nehmen wollte. Wie Onkel Kurt später persönlich von einer Frau Otto hörte, ist er im Armenhaus verhungert und soll zuletzt im März 1945 totgeschlagen worden sein.

Am Bahnhof Gurske sammeln sich die Wagen. Langsam setzt sich der Treck in Richtung Bromberg in Bewegung. Die Pferde haben schwer zu ziehen. Manchmal rutscht ein Wagen in den Graben. Später gibt es Tote am Wegesrand, weinende und klagende Menschen.

Unterwegs sind Stellen, wo Rast gemacht wird. Zwischendurch kann nicht ausgeschert werden. Da gibt es keine Spur, bzw. der Nebenstreifen ist für ziehendes Militär vorbehalten. Wenn Pause gemacht wird, können wir warme Suppe in einer Scheune haben und die Pferde bekommen zu fressen. Wird das Futter wohl ausreichen?

Der Treck geht über Bromberg, Nakel immer lange leicht bergauf. Die Pferde haben große Mühe. Sie schaffen es nicht mehr. Mutter muss ein paar Kisten abwerfen. (Wie sich später leider herausstellte waren es gerade die Kisten, in denen wichtige Urkunden lagen, die uns später für den Schadensausgleich fehlten). Über Schneidemühl und Deutsch-Krone geht es weiter in Richtung Stettin (s. Verkehrskarte Westpreußen).

Vater hatte uns nach etwa 3 Tagen eingeholt. Gerade noch war er über die Weichselbrücke gekommen. Hinter sich hörte er die Detonation., die Sprengung der langen Thorner Brücke! Von den Russen gesprengt! Die damals längste Flußbrücke Deutschlands war die nördlich davon gelegene Fordoner Brücke, an der Vaters Brüder Onkel Kurt und Onkel Willi ihre Höfe hatten.

Ständig hatten wir Angst, dass der Russe uns einholt.

Im Wagen war es bitterkalt und die Kost war wenig vitaminreich. Ich bekam eine Lungenentzündung. An entsprechende ärztliche Versorgung war nicht zu denken. Es gab die Möglichkeit, zu Muttis Onkel Heinrich nach Dramburg/Pommern einen Abstecher zu machen. Sie hatten dort einen Kolonialwarenladen und eine Kohlenhandlung. Auch sie waren im Aufbruch, den Ort zu verlassen. Onkel Heinrich besaß schon ein Lieferauto und einen Opel, da könnte ich dann wohl besser weiter mitfahren, damit ich es wärmer hätte und gesund werden könnte. So ging es etwa 45 km Richtung Dramburg.

Wir trafen Onkel Heinrich und Tante Frieda in sehr trauriger Stimmung an. Sie hatten einen sehr schmerzlichen Verlust erlitten. Zwei ihrer 4 Söhne waren in Russland gefallen. Reinhold und Paul waren ihnen noch geblieben. Gut, dass Tante Frieda im Laden alle Hände voll zu tun hatte, damit sie abgelenkt wurde. Es kam viel Kundschaft, die sich vor dem Aufbruch noch kräftig mit Lebensmitteln eindecken wollte.

Dort blieben wir 14 Tage. Dann ging es weiter über Stargard, Richtung Stettin, Prenzlau, Neu-Strelitz, nach Neustadt/Glewe in Mecklenburg. Inzwischen standen unterwegs viele Häuser, Höfe und Güter verlassen da. Die Besitzer waren schon fort. Zum Teil fanden wir noch die komplette Einrichtung vor. Dann konnten wir in leerstehenden Häusern getrost übernachten, um am nächsten Morgen nach Westen weiterzufahren.

Wir erreichten Neustadt/Glewe. Als Bauer Gutsche uns mit jetzt noch 4 Pferden ankommen sah, empfing er uns mit offenen Armen. Ihm waren wir sehr willkommen, da er doch nur 2 Ochsen vor seinem Pflug hatte. So kamen ihm die Pferde gerade recht. Er redete uns zu, bei ihm zu bleiben. Eigentlich wollte mein Vater lieber weiter bis über die Elbe flüchten. Da wäre man sicherer vor den Russen.

Starke "Ischiasschmerzen" plagten meinen Vater jedoch, und Mutter war schwanger. Mutters Tante Tildchen Feser setzte sich mit ihren 4 Kindern dort in der Nähe in Marnitz nieder. Auch Mutters Eltern waren für das Dortbleiben. So entschieden wir uns dafür, bei Gutsche in Neustadt/Glewe, Seestraße 6, zu bleiben. Später konnten wir 2 Häuser weiter in das leere Haus von Wacker umziehen. Nachdem das Konzentrationslager Neustadt aufgelöst wurde, wohnten über uns 2 Juden. Sie brachten uns öfter Feldfrüchte und Mutti kochte dann davon für sie mit. Eines Tages waren sie spurlos verschwunden.

Ständig gab es neue Aufregung. Die Russen hatten uns eingeholt. Sie suchten meinen Vater. Vater hatte sich schnell auf dem Boden im Heu versteckt. Die Russen durchsuchten mit ihren langen Degen alles, stachen dicht neben ihm ins Heu, fanden um "Gott sei Dank!" nicht. Mutter und ich waren nah dabei und zitterten am ganzen Leib.

Am 08.05.1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Dönitz hielt noch die Regierung bis 23.05.1945 in Händen. Das Ende des Deutschen Reiches. Am 17.06.45 war die Konferenz in Potsdam. Attlee, Truman und Stalin beschlossen den 4-Mächte-Status Deutschlands und Berlins. Es erfolgte die "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung". Deutschland wurde in 4 Besatzungszonen aufgeteilt. Mecklenburg fiel unter russische Besatzung. Uniformen, Papiere, Hitlerbilder u.ä. mussten heimlich vorher verschwinden. Dann kam die Abfertigung der russischen Behörde. Eine lange Schlange wartete vor einer Sperre. Aufatmen, wenn es geschafft war hindurchzukommen! Bei einer solchen Situation weinte Mutti ganz heftig und schrie: "Wenn ich Renate nicht hätte, würde ich mir das Leben nehmen!" Ich kann es nicht beschreiben, aber es war mir so, als wenn dieser Hilferuf meinem Vater galt.

Vater und Lothar gingen auf ein Gut zum Kühe hüten. Manchmal gab es auch Notstands- arbeiten und nachts mußte man schon mal etwas fürs Essen organisieren. Schon bald hatte Lothar sich einen kleinen Wagen aus mitgenommenen Brettern gebaut und verrichtete damit kleine Transporte, um etwas zu verdienen. Da mußten z. B. Lebensmittel in die Unterkünfte gefahren werden und Lothar sorgte gut dafür, daß für uns auch ein Brot oder eine Tüte Mehl abfielen. Hunger brauchten wir Gott sei Dank nicht zu leiden.

Am 06.10.1945 wurde Dieter geboren. Meine Oma und die Hebamme waren dabei. Ich mußte draußen warten. Nach der Geburt durfte ich hinein. Waschschüsseln und Tücher lagen umher und die Frauen waren emsig beschäftigt. Beim Wickeln durfte ich dabei sein und helfen. Ich mochte den Kleinen sehr. Einmal durfte ich ganz selbständig allein auf ihn aufpassen, als meine Eltern weg mussten. Dieter durfte mir nicht vom Bett fallen! Da war ich ganz gewissenhaft. - Am 01.12.1945 wurde er in Neustadt/Glewe getauft.

Im See konnte man baden. Es war warm und viele Leute waren mit den Füßen im Wasser. Mir fiel auf, dass mehrere an ihren Beinen Furunkel hatten, genauso wie ich einen an der Wade hatte, der ungeheuer wehtat, wenn man ihn berührte. Mutti plagte so etwas am Hals und am Gesäß. Das kam von der schlechten Ernährung nach dem Krieg, wurde gesagt.

Meine Großeltern sind in Ruhn /Kreis Parchim trotz ihres hohen Alters noch auf einer Siedlung sesshaft geworden. Mutter wollte mit uns 3 Kindern auch nach Ruhn ziehen. Mit Pferd und Wagen und unserer restlichen Habe zogen wir dann um. Wieder war es bitterkalter Winter. Klein Dieter war im Kinderbettchen auf dem Wagen gut mit Kissen zugedeckt. Oma war auch mit uns dabei. Als Rast gemacht wurde, sollte Dieter etwas zu trinken haben. Mutti nahm das Kissen ab und sah entsetzt, dass unser Dieter reglos dalag. Er war erstickt! Mutti war fassungslos. Ich war bei ihr, war stumm. Oma kam hinzu. Schnell lief sie ins nächste Haus und fragte nach dem Pastor. Ich weiß nicht mehr, wie es weiter ging. Hier ist meine Erinnerung zu Ende. Ich konnte meine Mutter nichts fragen. Sie sollte nicht durch mein Fragen Schuldgefühle haben oder daran erinnert werden. Ich weiß nicht, wo Dieter beerdigt wurde.

In Ruhn sind Fesers mit den 4 Kindern. Mit Gretchen und Bruno streifen wir umher. Oma bringt mir das Stricken bei. Opa sitzt immer am warmen Ofen und braucht ganz heißen Kaffee. Die Kanne steht immer auf dem hohen Ofen und der Kaffee-Ersatz wird immer wieder aufgegossen.

Vater hat Kontakte zu seinem Bruder Kurt, der bis über die Elbe nach Dommatzen, Krs. Dannenberg, gekommen war, und zu seinem Cousin Walter Gietz (beide Großmütter sind Schwestern) in Magelsen, Krs. Grafschaft Hoya, aufgenommen. Ihn zieht es mit aller Macht über die Elbe in die britisch besetzte Zone. Per Zug gibt es Gelegenheit in den Westen zu gelangen. Diese Möglichkeit wird gestrichen und der letzte legale Zug macht es uns möglich, mit einem Koffer und wenig Bettzeug zu Onkel Kurt zu kommen. Aus den offenen Fenstern dieses überfüllten Zuges quollen die Menschen und die Koffer heraus. Jeder wollte noch mit rüber. (Für diese Zeit vom 9.5.45 - 29.6.46 fehlt Vater der Nachweis für die LVA).

Nachdem wir im Frühjahr 1946 einige Zeit in Dommatzen bei Onkel Kurt, Tante Hertha, und den 4 Kindern, Eva, Christa, Siegfried und Klaus, wohnen konnten, wurde unweit entfernt eine Bleibe für uns hergerichtet. Ein Schweinestall wurde für uns ausgebaut und schön mit einem Tisch und 4 Stühlen eingerichtet. Leute aus dem Dorf brachten uns Dinge, die wir gut gebrauchen konnten. Direkt gegenüber lag die Kirche und die Schule. Es wurde Zeit, dass ich endlich eingeschult wurde!

Mit 7 Jahren kam ich im Juni 1946 erstmals in Zebelin ins 2. Schuljahr. Weil ich schon ein paar Buchstaben malen konnte, dachte ich, ich könne schon alles schreiben. Der erste Tag begann mit Malen. Ich malte tüchtig mit und war stolz auf mein Bild. Es gab sogar Zensuren. Bei mir kam eine "Vier" darauf, bei den anderen Kindern meistens 1, 2 oder auch 3. Ich freute mich, dass ich eine höhere Zahl bekommen hatte und zeigte Mutti voller Freude mein Blatt. Mutti war gar nicht so erfreut und klärte mich erst einmal auf. Am nächsten Tag gab ich mir Mühe und es wurde schon eine "Drei". Ab jetzt besserten sich die Noten. Ich übte fleißig mit Mutti.

Vaters Cousin Walter Gietz meldete sich aus dem Bauerndorf Magelsen. Mit seinen 4 Pferden war er bei dem Bauern Bormann gut untergekommen und riet uns unentwegt, doch auch dorthin zu kommen. Vater hatte nun wohl das Sagen und Mutter zog mit, obwohl ihr und anderen dieser Verwandte nicht so sonderlich lag.

Ein neuer Lebensabschnitt beginnt für uns.

Es war die Flucht der Ostdeutschen vor der Roten Armee und die Vertreibung fast aller Deutschen aus den deutschen Ostgebieten, der Tschechoslowakei (Sudetenland) und Ungarn. Über 3 Millionen kommen dabei um. Etwa 18 Mill. Deutsche verlieren ihre Heimat. Beim Potsdamer Abkommen 1945 verpflichten sich drei Besatzungsmächte zu einem Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland, doch fehlen Weisungen über ein deutsches Selbstbestimmungsrecht. - Nach den Pariser Friedensverträgen gibt es keine Einigung über Deutschland auf der 1947 stattfindenden Moskauer Außenministerkonferenz. 1948 wird auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz der wirtschaftliche Anschluss der Westzonen an Westeuropa beschlossen, wogegen der inzwischen formierte Ostblock auf der Warschauer Außenministerkonferenz protestiert. - Während der Berliner Blockade unterzeichnen 1949 bei der Washingtoner Außenministerkonferenz die Westmächte das Besatzungsstatut für Westdeutschland (dtv-Atlas Weltgeschichte).

Am 23. Mai 1949 ist die Verkündung des "Grundgesetzes". Im August 1949 findet die Wahl zum 1. Bundestag statt. Bundespräsident wird Prof Theodor Heuss. Konrad Adenauer wird Bundeskanzler.

Am 05. Mai 1945 musste Berlin-Karlshorst, wo Tante Martha, Ilse und Alfred Bigalke ihren Wohnsitz hatten, geräumt werden. Zunächst kamen Tante Martha und Ilse in einer Laube bei Bekannten unter, dann in einem Zimmer in Alt-Karlshorst. Alfred arbeitete für die Russen. Er bekam in Berlin-Britz eine Wohnung und heiratete. Dann ging er in das Saarland und baute eine Fabrik (mit Fernmeldetechnikern) auf. (siehe auch unter Familie Bigalke).

Es war wohl die größte Vertreibung aller Zeiten, von den Alliierten gewollt.

Hinweis: Herr Richard Schallhorn (Schwager von Tante Hertha Hagen, hat über die Vertreibung und den Fluchtweg vieles aufgeschrieben. Diese Aufzeichnungen sind im Besitz von Gisela Hansche und ihrer Schwester Rita, Evas Cousinen.


 
zurück: Der Hof Hagen
zurück: Auszüge aus der Biografiearbeit von Renate Tetzlaff, geb. Hagen
zurück: Renate Tetzlaff: Die Kinderzeit in Gurske
weiter: Renate Tetzlaff: Das Schicksal der Familie Willi Knodel
   

HEIM@THORN Editorial - Inhalt Die Thorner Stadtniederung - Inhalt Das Buch - Inhalt
Quellen - Inhalt Anhang - Inhalt Die Links
Auf der Flucht  

© 2000   Volker J. Krueger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 31.07.2004