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Verschleppung der Deutschen 1939  


Rathausturm mit Copernicus-Denkmal

Hans Freiherr von Rosen




Dokumentation der Verschleppung der Deutschen aus Posen-Pomerellen im September 1939,
ISBN 3-922131-73-5, Bonn 1990, S. 49-52




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Marschgruppe [36] Kulm (Chelmno)


Die Zahl in blauer eckiger Klammer, z.B.: [23], bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.

[49]Den weitesten Marsch haben die Verschleppten des Kreises

[36] Kulm (Chelmno)

gemacht, in sich ziemlich geschlossen, aber zusammen mit Inhaftierten aus fast allen Kreisen rechts der Weichsel. Die Sammlung erfolgte in Thorn. Bereits der Marsch dorthin war für viele mit schweren Mißhandlungen verbunden. Die Strasburger wurden z. B. gefesselt verschleppt (7/8/9-11), die Graudenzer (aus Rheden und Lessen) gepeitscht und furchtbar zerschlagen (7/18/177-279). Auch die Männer aus Groß-Leistenau (Kreis Graudenz) marschierten gefesselt (Sonderakte 1, 10). In Thorn wurden die Verschleppten grausam mißhandelt, mancher bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen (Jungbauer Hans Hermann aus Schöneich - "Elbinger Nachrichten" 472/ 21,S.6).

Am 3. September abends, traten 508 Menschen den Marsch nach Warschau an (7/2/ 193-212) - lt. 7/18/177-279 waren es 510. Auch die Angaben über die Zahl derer, die diesen Marsch nicht überstanden, differieren nur um zwei: 187-188-189. Zu der Marschgruppe gehörten fünf evangelische Pastoren.

Der Marsch führte zunächst bis Alexandrowo, wo, da ein Verladen nicht möglich war, am Tag in einem Schuppen gerastet wurde. Es wurde auch erlaubt, zum Einkauf von Lebensmitteln Geld zu sammeln - 190 Zi. kamen zusammen. Der Transportführer, ein Hauptmann, nahm dann jedoch diese Lebensmittel für seine Wachmannschaften. Durch polnische Spitzel - die unter die Verschleppten gemischt worden waren - wurden 20 führende Deutsche (u. a. Dr. Brauner, Robert Kittler, Laengner-Thorn, Krüger-Altthorn, Thon-Briesen) als "Rädelsführer" angegeben, herausgeholt und erschlagen (7/18/9-11; 98; 111; 363-381).

Dann ging es in der Nacht vom 4. zum 5. September weiter. Nach etwa einer Stunde, der Zug war bei Podzamcze kurz vor Nieszawa, setzte eine wüste Schießerei ein. Die Bewachung, 300 Strzelcy ("Schützen", d. h. junge Freiwillige), verlor völlig die Ner[50]ven. Abwechselnd hieß es: Laufschritt - hinlegen - Laufschritt - knien - Hände hoch! Dazu dauernd Schüsse in die Kolonne. Als Kurt Höltzel, Birkeneck (Kreis Strasburg), herausstieß: "Das ist ja Verrat!", wurde er von dem Hauptmann niedergeschossen. Ein anderer erhielt einen Kolbenschlag, sagte: "Herr, vergib ihnen. . .", darauf wurde ihm der Schädel eingeschlagen (7/18/177-279).

Schließlich wurden 50 Mann zum Erschießen herausgeholt. Davon wurden 47 tödlich getroffen, einer, Otto Bäcker aus Groß-Lunau, erhielt einen Armschuß, zwei, Pastor Tietze (Kulm) und Förster Baumann (Stolno), wurden nicht getroffen. Bäcker und Tietze marschierten weiter, Baumann entkam im Dunkeln, gelangte, halb irre, nach Stolno und berichtete, der Besitzer von Stolno, Gerd Strübing, und Pastor Tietze seien erschossen. Das erste traf zu. Eine Suchkommission fand die verstümmelte Leiche Strübings und glaubte, in einer anderen Tietze zu erkennen. Über Rundfunk und Presse erfuhren dessen Angehörige von seiner Beisetzung in Thorn (Ost-Dok. 17/13, Nachtr. 209-229). Pastor Tietze war jedoch am Leben geblieben.

Die für dieses Gemetzel Verantwortlichen sind zum Teil ermittelt und vor ein deutsches Sondergericht in Bromberg gestellt worden (Alfred de Zayas, "Die Wehrmachts-Untersuchungsstelle", Universitas/Langen Müller, München, 1980, S. 179). Der Sammelprozeß gegen Jan Drzewiecki und 37 andere Angeklagte ging am 1. April 1942 zu Ende, die Urteilsbegründung umfaßt 177 (!) Seiten. 21 Beteiligte wurden zum Tode verurteilt, einer zu fünf Jahren verschärftes Straflager, 16 wurden freigesprochen. Dieses differenzierte und peinlich genau begründete Urteil ist ein Beweis dafür, daß die Sondergerichte ihre Untersuchungen mit größter Sorgfalt und frei von Ressentiments oder parteipolitischen Erwägungen durchführten und ihre Urteile fällten. Um so mehr bekräftigt es die Aussagen der überlebenden deutschen Verschleppten, daß sich fanatisierte, ihrer Aufgabe nicht gewachsene Angehörige polnischer Bewachungskräfte einwandfrei schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben. Die Ermordung von 47 Deutschen ist in diesem Fall gerichtlich gesühnt worden - die Schuldigen für 99 von 100 weiteren Toten der deutschen Volksgruppe sind, bis auf einzelne Ausnahmen, dem irdischen Richter entkommen.

Nach anderthalbstündigem Wüten wurde bis kurz vor Wloclawek weitermarschiert. Auf einem Vorwerk wurde gerastet, 30-40 Mann in einem winzigen Pferdestall auf frischem Mist. Sie litten unsäglich unter Durst, die nicht versorgten Verwundeten quälten sich besonders. Nach vielen Stunden gab es für alle einen Eimer Wasser und abends 2 bis 3 Kartoffeln pro Mann.

Am 6. September nachmittags sammelte der Wachtmeister 300 ZI., um Essen zu besorgen - der Hunger quälte die Verschleppten derart, daß sie ungeachtet der gemachten schlechten Erfahrungen wieder Geld gaben. Erhalten haben sie nichts das Geld waren sie selbstverständlich los. Dann wurde über Brest Kujawisch (Brześc Kujawski) in Richtung Choceń weitermarschiert (7/18/109-121). Da das Lager angeblich durch Luftangriff zerstört war - aber zu derselben Zeit wurden ja die Bromberger erst dorthin getrieben, und von einem Luftangriff auf Choceli ist nirgends die Rede -, kamen die Inhaftierten in der Nähe von Choceń in einen großen Schafstall, [51] dessen frischer Mist unerträgliche Hitze ausströmte. Hier blieben sie bis zum 7. nachmittags und zogen dann durch die Nacht hinter den Chocener Kolonnen (siehe [27]) her, mit mehrstündigem Abstand und ohne das geringste von den 4000 zu wissen.

In der Nacht vom 8. zum 9. September kamen sie durch Kutno und bogen 15 km danach -Wegweiser "Warschau 109 km" - nördlich nach Dobrzelin ab. Hier früh dreistündige Rast in einem Pferdestall. Der Weitermarsch führte nach mehrfachem Hin und Her endlich zu einem Bahnhof, vermutlich Zychlin. Hier wurde die Kolonne verladen, 75 Mann in einem Waggon, bei furchtbarem Durst und größter Hitze. Indessen war die Fahrt schon nach zwei Stunden zu Ende, die Strecke zerstört. Es ging querfeldein nach Nordosten. Viele blieben liegen und wurden erschossen. Einzelne entkamen in abenteuerlicher Irrfahrt, z. B. Goertz aus Lemberg, Kreis Strasburg (7/18/109-121). Die Kolonne kam auch durch ein Dorf, in dem Bauern in Lowitscher Tracht Erntefest feierten - grotesk angesichts der nur 20 km davon entfernt tobenden Kämpfe und auf die gequälten, fast verdurstenden Verschleppten wie ein Hohn wirkend. Nach kurzer Rast ging es die ganze Nacht hindurch. Sie hörten dauernd Kampflärm, kamen auch oft in Artilleriebeschuß. Auf diesem Marsch verloren die Kulmer viele durch Tod, ihre Gräber wurden in Jackowice, Zlatkow Koscielny, Kiernozia, Mlodzieszyn gefunden.

Am 11. September früh wurde die Kolonne bei Brochow durch die Bzura getrieben und dann in nordöstlicher Richtung am Nordrand der Puszcza Kampinoska (Heide von Kampinos) entlang. In diesem Gebiet war es besonders qualvoll, daß nachts marschiert wurde, weil die Wege in trostlosem Zustand waren, meist mahlender Sand mit tiefen Gleisen. Auch ging es im Zickzack hin und her, einmal nach Norden und dann wieder nach Südosten. Die Verpflegung war erbärmlich, so wurden für 3 Zwiebacke 6 Zl. verlangt. Eimer mit Essen, das Bäuerinnen verkaufen wollten, wurden von dem Hauptmann umgestoßen. Einzelnen, die unterwegs zusammenbrachen, glückte es, im Schutz der Nacht lebend davonzukommen, sich vorm Erschießen freizukaufen, bei deutschen oder auch polnischen Bauern unterzukommen (7/18/109-121; 363-381).

Am 13. September abends wurde Lomna, 25 km nordwestlich Warschau, erreicht und hier am 14. in einem großen Pferdestall gerastet. In der darauffolgenden Nacht ging es nach Warschau,- in Gruppen zu 40 Mann durch die unter Beschuß liegende Stadt und die mit Spaten (weil sie schanzten!) auf die Kolonne einschlagenden Männer des Pöbels. Am 15. nachmittags wurden sie in den "Pawiak" eingeliefert, das große Warschauer Gefängnis.

Hier verlebten sie noch zwei furchtbare Wochen. Behandelt wurden sie wie Verbrecher, die Verpflegung war völlig unzureichend, die meisten litten entsetzlich unter Durchfall. Dazu kam die Beschießung der Stadt. Das deutsche Oberkommando hatte am 16. September Warschau zur Übergabe aufgefordert, der polnische Kommandant, General Romel, aber nicht darauf reagiert. So begann am 17. die Beschießung durch Artillerie und Luftwaffe. Sie führte dazu, daß bald Licht und Wasserversorgung ausfielen. Wie durch ein Wunder hatten die Verschleppten keine Verluste durch die [52] Beschießung, obwohl der "Pawiak" unter starkem Feuer lag und unter der Besatzung erhebliche Verluste eintraten.

Vom 25. an wurde Trommelfeuer geschossen, am gleichen Tag brannte Warschau. Das dauerte drei Tage, dann herrschte ab 27. September 12 Uhr Waffenruhe, und am 28. kapitulierte der Kommandant General Römel. Bei den Übergabeverhandlungen soll er gesagt haben: "Kolo sie kreci!" - das Rad der Geschichte dreht sich. Er hat recht behalten. Aber es wird sich weiterdrehen.

Am 27. wurden sie freigelassen, erhielten ihre Papiere, mußten sich aber noch unter großen Schwierigkeiten durchschlagen, ehe sie am 28. auf die deutschen Linien stießen.

Eine kleinere Gruppe Kulmer hat den Marsch der Thorner [37] mitgemacht, ihre Toten wurden in Budy Kaleniskie bei Gostynin und in Jablonna, nordwestlich Warschau, östlich der Weichsel, gefunden.

Die Mehrzahl der Verschleppungszüge aus Pommerellen führte über

[37] Thorn (Torun)

So kam es, daß inhaftierte Thorner zu allen möglichen dieser Züge gepackt wurden dem Bromberger, dem Kulmer und anderen. Es hat indes auch einen eigenen Thorner Verschleppungszug gegeben. Offenbar handelte es sich dabei, was den Inhaftierungstermin betrifft, um eine "zweite Welle". Die Verhaftungen erfolgten erst um den 6. September, demnach wohl kaum mehr aufgrund der Listen. Zu diesem Zug kamen auch Briesener und Kulmer. Auch er führte nach Warschau.

Der Zug marschierte am 6. abends in Stärke von 78 Männern und einem jungen Mädchen ab, zunächst bis Ciechocinek, dann querfeldein. Am 7. mittags wurde Stanowo erreicht, wo es Verluste gab. Dann folgte ein Gewaltmarsch bis Brest, bei dem zahlreiche Verschleppte vor Erschöpfung zurückblieben und erschossen wurden (7/19/ 325-361). Der Weg durch die Stadt Brest war ein Spießrutenlaufen.

In der Nacht vom 8. zum 9. September erreichten sie Kowal, hielten sich also nördlich der von allen anderen Verschleppungszügen benutzten Strecke. Auf dem Straßenpflaster gab es eine Rast. Hierbei wurde die Transportliste abgestimmt - wer fehlte, also umgekommen war, wurde kurzerhand gestrichen. Dann ging es durch Gostynin, wo die Inhaftierten (am 10.) das erste Stück Brot erhielten, weiter querbeet nach Gombin. Abends war der Zug in Sanniki. Hier wechselte die Wachmannschaft. Die neue erwies sich als viel menschlicher - in der Regel war es umgekehrt.

Es folgte ein dreitägiger Marsch, überwiegend auf sandigen Wegen. Erste Rast am 11. vor Ilow. Dann weiter nach Mlodzieszyn, wo auf einem total verwahrlosten Gut gerastet wurde. In dieser Gegend kreuzt sich die Marschroute der Thorner mit der der Kulmer, die einen Tag vorher hier durchmarschiert waren. Die Thorner wurden am 12. September durch die Bzura getrieben, etwas weiter südlich als tags zuvor die Kulmer, und kamen abends nach Kampinos.

Am 13. marschierten sie in nördlicher Richtung durch die trostlose Kampinoser [53] Heide, über Górek nach Nowyswór an der Weichsel. Dabei kreuzten sie erneut den Weg der Kulmer. Am 14, wurden sie unter schwerem deutschem Artilleriefeuer über die Weichsel getrieben, hielten sich am rechten Weichselufer und gelangten abends nach Jabłonna. Auch hier lagen sie unter deutschem Beschuß. Von irgendwelchen Verlusten durch deutsches Feuer ist jedoch nirgens die Rede. Die Einschließung Warschaus hatte begonnen.

Aus diesem Grunde wurden die Verschleppten noch nachts weitergetrieben. Am 15. früh waren sie in Praga. Es ging zurück auf das linke Weichselufer - kurz darauf fiel Praga bereits in deutsche Hand. Dann lagen die Thorner stundenlang im Straßenschmutz, ehe man sie in das Gefängnis in der Daniłowiczowskastraße brachte. Hier verbrachten sie die nächsten vier Tage unter schwerem deutschen Beschuß und fast ohne Verpflegung. Am 19. wurden sie in den "Pawiak" überführt. 22 Mann kamen in eine Zelle von 24 Quadratmeter. Sie teilten nun das Schicksal der Kulmer Gruppe. Am 27. abends nach Erklärung der Waffenruhe wurde ihnen erklärt: "Jesteśćie wolnie Panowie - Sie sind frei, meine Herren!" Am nächsten Morgen erhielten sie ihre Papiere. Pastor Dietrich, Gurske (er hatte den Kulmer Marsch mitgemacht), überredete den Gefängniskommandanten, einen polnischen Oberst, den Zug aus der Stadt zu führen. Das geschah am 28. nachmittags. Am 29. um 5:00 Uhr früh waren sie in Pruszków bei den Deutschen.

[38]

Eine kleine Gruppe aus Thorn-Rudak mit Superintendent Hermann, seiner Frau und dem Pfarrgehilfen wurde im Fußmarsch nach Choceń getrieben, offenbar die ersten, die in das Lager kamen. Sie wurden nämlich nicht wie alle späteren Transporte dort "gesammelt", sondern zusammen mit 11 Briesenern per Bahn nach Bereza geschickt. Pastor Hermann gehörte zu denjenigen, die nach der Befreiung am 17. zuschwach waren, um sich schnell genug nach Westen abzusetzen. Er ist erst vier Wochen später von den Sowjets zur deutsch-sowjetischen Demarkationslinie zurückgebracht worden.



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Verschleppung der Deutschen 1939  

© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 13.03.2004