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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Psychoterror

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

"In der Erziehung unserer fünf Kinder waren Dein Vater und ich nicht immer einig", so begann meine Mutter, aus ihrer Sicht zu erzählen. "Er konnte sehr streng sein. Du als sein jüngster Sohn bist wohl ohne einen Schlag aufgewachsen. Deine [167] Geschwister haben seine harte Hand zu spüren bekommen. Es war sein Erziehungsprinzip, darauf zu bestehen, daß Ihr Euch bei jedem Vergehen bei ihm in aller Form entschuldigt. Vorher sprach er mit Euch nicht. Man nennt das wohl heute Liebesentzug, was er bis zur Entschuldigung mit Euch machte. Ihr hattet Euch oft sehr lange gesträubt, und ich mußte mit viel Geduld auf Euch einreden, bis Ihr unter Tränen soweit wart, der unerbittlichen Erziehungsregel Eures Vaters zu entsprechen. So wie in der Familie, ebenso verhielt er sich auch in der Nachbarschaft. Er verstand es, auch bei kleinen, im Grunde belanglosen Dingen seinen Willen durchzusetzen. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Arnold Giese meine Nichte Elfriede Goerz geheiratet hatte und deren Hof in Altthorn zu bewirtschaften begann, der genauso groß war wie unserer. Dein Vater fuhr immer mit dem Einspänner zur Stadt oder zu anderen Besorgungen. Nur dann, wenn die ganze Familie einen Ausflug zu Pfingsten in den Sängerauer Wald oder einen offiziellen Besuch bei unseren weiter entfernt wohnenden Freunden oder Verwandten machte, ließ er den blauen Wagen anspannen, und wir fuhren dann mit dem Kutscher. Arnold Giese wollte eine neue Sitte einführen und zu allen Anlässen mit dem Kutschwagen fahren. Dein Vater sagte ihm einmal trocken: 'Das geht bei uns nicht.' Da war das Verhältnis zu diesen Nachbarn erst einmal erheblich getrübt. Dein Vater hatte viele Ehrenämter, und er mußte deswegen häufig wegfahren. Wenn er stets mit dem Kutscher und zwei Pferden unterwegs gewesen wäre, dann ständen sie für die Wirtschaft nicht zur Verfügung. Arnold Giese leitete seinen Betrieb sehr ordentlich. Er war ein tüchtiger Landwirt, arbeitete aber körperlich, so wie Dein Vater, nicht mit. Es wäre eigentlich seine Angelegenheit gewesen, ob er mit oder ohne Kutscher, ob er mit einem oder mit zwei Pferden seine Fahrten machte. Für Deinen Vater war das keineswegs egal. Ich hatte überhaupt den Eindruck, als ob sich zwischen ihm und seinem angeheirateten Neffen so etwas wie ein Konkurrenzverhältnis entwickelte. Arnold Giese war etwa fünfzehn Jahre jünger. Er hatte bei gemeinsamen Festen auch Erfolg bei [168] den Frauen und auch bei Deiner Schwester Ursula, der er zeitweise ziemlich offen den Hof machte. Vielleicht ärgerte Deinen Vater auch dies. Das Hickhack zwischen den beiden ging so bis zu unserer Silberhochzeit. Dann war unsere Beziehung zu Gieses wieder freundschaftlich-herzlich. Beide Männer sind zusammen auf dem Marsch nach Warschau gewesen und haben dabei den Tod gefunden.

Wir hatten oft Besuch von zwei ehemaligen Kriegskameraden Deines Vaters aus dem Reich. Einer, Petzold hieß er, wohnte in Berlin, der andere, Bartz, in Westfalen. Mit ihnen hatte er viel korrespondiert. Beide waren entschiedene Anti-Nazis. Ich erinnere mich nicht daran, daß er ihnen in dieser Hinsicht jemals widersprochen hätte. Einmal, als der eine dieser beiden Kriegskameraden gerade angekommen war, sahen wir schon den Ortspolizisten auf den Hof fahren. Er erkundigte sich scheinheilig, diese Geste beherrschten die Polen sehr gut, ob hier eine Versammlung sei. Dein Vater hatte die ständige Überwachung unseres Hauses zunächst auf die leichte Schulter genommen. Ab Mitte 1939 wurde sie immer unerträglicher. Eine Nacht lang stand ein Auto vor dem eisernen Gartentor. Es war so hingestellt worden, daß der Scheinwerfer genau in unser Schlafzimmer leuchtete. Dagegen konnte er nichts unternehmen.

Als der Befehl zur Ablieferung der Waffen gekommen war, hatte Dein Vater die Flinte, den Tesching, seinen Revolver und die Munition zum Ortspolizisten bringen wollen. Der sagte ihm, er solle die Waffen zum Starosten nach Thorn bringen, nur um ihn zu schikanieren. Dann folgten kurz hintereinander zwei Haussuchungen nach Waffen. Bei der ersten hatte man nichts gefunden. Bei der zweiten lagen einige Schrotpatronen und Revolverkugeln im großen Garderobenschrank im Flur. Die hatte man während der ersten Haussuchung dort hineingelegt. Die Polen wollten Deinen Vater, der für die Thorner Niederung ein Vorbild war, systematisch zermürben. Die ständige seelische Anspannung wirkte sich schließlich auf seine körperliche Befindlichkeit aus. Er fühlte sich nicht mehr wohl. Seine rheumatischen Beschwerden steigerten sich, und [169] er hatte auch Kreislaufstörungen. Es dauerte nicht mehr lange bis zu seiner Verhaftung. Meine Ehe mit ihm war glücklich, obwohl auch manchmal die Türen knallten. Wie Du es weißt, wollte ich ihn schon als junges Mädchen gern heiraten. Er gefiel mir seit meiner Kindheit sehr gut. Ich habe dieses Ziel erreicht. Für mich war diese Ehe nicht nur ein gesellschaftlicher Aufstieg, sondern auch eine ständige geistige Herausforderung. Bei uns war es nie langweilig. Ich bin Deinem Vater dankbar für jeden Tag, den ich mit ihm zusammen sein durfte. Er hatte Ansichten, die sich nicht immer mit meinen deckten. Ich habe dann meinen Standpunkt erbittert vertreten. Meinem Gefühl, meiner Liebe zu ihm war das nicht abträglich. Er war der einzige Mann in meinem Leben.

Er sagte oft, er könne sich ein Weiterleben nach dem Tode nur vorstellen, wenn innerhalb einer Familie oder eines Volkes die Erinnerung an einen Menschen wach bleibe. Wenn sie erlösche, sei ein Mensch wirklich gestorben. Bis zu diesem Zeitpunkt lebe er im Bewußtsein der Menschen weiter. Ich glaube", sagte meine Mutter abschließend, "sein Opfertod wird in unserer Familie nicht vergessen werden. Edith hatte von Euch fünf Kindern den engsten Kontakt zu ihrem Vater. Frage sie, was aus dem schrecklichen Jahr neununddreißig in ihrer Erinnerung haften geblieben ist."


 
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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004