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Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Wie Nietzsche den ersten Gang verzögerte

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

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Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.

Unsere Familie verstand, Feste zu feiern. Mein Vater hatte sich den Ausspruch von Johann Wolfgang von Goethe "Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste" zu eigen ge[115]macht. Er feierte gern, setzte sich an das Klavier und spielte einen Walzer oder, wenn er ganz guter Stimmung war, griff er zur Geige und begleitete einen Klavierspieler, um eine versammelte Gesellschaft zum Tanz zu animieren. Von meiner Mutter stammt das Gerücht, er hätte einmal in der Indra, einem damals von der Familie gern besuchten Nachtklub in Zoppot, dem Kapellmeister die Geige aus der Hand genommen und zum Vergnügen der Gäste längere Zeit als Stehgeiger die beliebtesten Schlager gespielt. Jeder in der Familie kannte diese seine Neigung.

Es war deswegen selbstverständlich, daß die nahende Silberhochzeit meiner Eltern im Jahre 1934 groß gefeiert werden sollte. Alle Verwandten und Freunde wurden eingeladen. Das Fest begann mit einem Essen. Die Tafel war im Eßzimmer und im anschließenden Herrenzimmer gedeckt. Meine Schwestern zeigten, was sie bei unserer Mutter und in ihrer Ausbildung gelernt hatten. Es stimmte alles: die Gedecke, die Weingläser, die Tischkarten, das Menü, die Tafeldekoration, die Weine. Nach der Suppe wurden Reden gehalten. Mein Vater sprach nur kurz zur Begrüßung der Gäste. Dann klopfte Pfarrer Anuschek an sein Glas. Er war uns von seinen Predigten in der Gursker Kirche allzu gut bekannt. Sie waren oft niederschmetternd, wenig tröstlich und zuweilen auch nicht sehr durchdacht. Jetzt fand er für seine Festansprache kein Ende. Nach der ersten Stunde baute sich in der Hochzeitsgesellschaft ein Gefühl der Ermüdung auf. Man konnte sein eigentliches christliches Anliegen unter den vielen Worten nicht mehr heraushören. Die Köchin öffnete vorsichtig die Eßzimmertür und warf einen fragenden Blick auf meine Mutter. In ihm lag die Befürchtung, der mit viel Liebe vorbereitete Braten könnte zusammenbrutzeln und ungenießbar werden. Der Pfarrer nahm von der wachsenden Unruhe keine Notiz und redete weiter. Wer geglaubt hatte, er käme jetzt langsam ans Ende, täuschte sich. Er begann sich erst jetzt, mit dem verwerflichen Philosophen Friedrich Nietzsche auseinanderzusetzen. Wer unseren guten Pfarrer kannte, der wußte, ein wie engagierter Streiter für Gott er war. Wenn er den atheisti[116]schen Nietzsche mitsamt seinem Zarathustra in zehn Minuten zur Hölle geschickt hätte, wäre von meiner Mutter und von der gesamten Silberhochzeitsgesellschaft nichts dagegen eingewendet worden. Meine Familie war christlich und lehnte die immer mehr aufkommenden Ideologien des Nationalismus, des Rassismus und der Übergesellschaft von Karl Marx ab. Dann stellte der Herr Pfarrer mit weit ausholender Rhetorik der Silberhochzeitsgemeinde die Frage, warum der Philosoph von Sils Maria nur Gott und nicht auch den Teufel für tot erklärt habe. Endlich, leider eine geschlagene Stunde zu spät, packte unseren Herrn Pfarrer das Mitleid mit seiner verirrten Herde und gönnte ihr die saftige Weide in Gestalt des ersten Fleischganges. Danach wurden weitere Reden gehalten. Meine Eltern freuten sich am meisten über die Gratulation des polnischen Gutspächters Gniot aus Schmolln. Er überbrachte die guten Wünsche der polnischen Berufskollegen aus der Niederung und verstand es, sie in herzliche Worte zu kleiden.

Mein Bruder Werner war aus Danzig gekommen. Er erhob sich, klopfte mit dem Teelöffel an sein Weinglas und hielt im Namen von uns fünf Geschwistern folgende Tischrede: Liebe Eltern, hochverehrte Gäste. Fünfundzwanzig Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem Euer gemeinsames Leben hier begann. Fünfundzwanzig Jahre schwerer gemeinsamer Arbeit habt Ihr hinter Euch und habt es dabei verstanden, alle Sorgen und Freuden dieses Lebens gemeinsam zu tragen und zu erleben. Schwere Zeiten sind an Euch vorübergegangen, der vierjährige Krieg, die Abtrennung vom Reich, der wirtschaftliche Niedergang, der von allen, die das eiserne Bestreben hatten, im Wirrwarr der letzten Zeit nicht unterzugehen, unermüdliche Arbeit und äußerste Charakterfestigkeit verlangte. Und doch habt Ihr den Kampf bestanden und könnt wohl mit dem Erfolg Eurer mitunter fast zu schweren Arbeit zufrieden sein. Ich glaube, es richtig zu sehen, daß besonders Du, lieber Papa, Dich freudig zu den Worten des Führers des dritten Reiches bekennst: "Es ist herrlich, in einer Zeit zu leben, die ihren Männern große Aufgaben stellt."

[117] Ihr seid nun, um den Vergleich mit der Natur zu gebrauchen, in den Spätsommertagen Eures Lebens angelangt. Nach einem Leben mühevoller Arbeit geht Ihr nun langsam dem Herbst entgegen, in dem es Euch vergönnt sein möge, gesund und zufrieden die Früchte Eurer jahrelangen, mühevollen Arbeit zu ernten. Ich möchte es hiermit öffentlich mir und meinen Geschwistern zur Pflicht machen, Euch nach bestem Wissen und Gewissen das zu erweisen, was wahre Kinder ihren Eltern sein müssen. Ich danke Euch hiermit nochmals im Namen meiner Geschwister für Eure unermüdliche Liebe, für Erziehung und alles Schöne, was Ihr uns sonst noch habt angedeihen lassen.

Auf der Silberhochzeit wurde in Gruppen viel diskutiert. Ich habe nur die Hälfte davon verstanden und erinnere mich nur an einen kleinen Bruchteil davon. Zweierlei erscheint mir erwähnenswert. Über die Unterstellung meines Bruders wurde nicht gesprochen. Mein Vater war damals Hitler gegenüber unentschieden. Werner war der erste aus unserer Familie, der sich in seiner Rede zu Hitler bekannt hatte. Von meinem Vater war dergleichen vorher und auch bei der Silberhochzeit nichts zu hören. Seine vielen Ehrenämter hatten ihm ohnehin politische Zurückhaltung auferlegt. Die polnische Polizeibehörde ließ ihn zu der Zeit schon durch einen Kriminalbeamten überwachen, der sogar bei der Silberhochzeit aufgetaucht war.

Eine Gesprächsrunde, an der sich Pfarrer Anuschek beteiligte, diskutierte die Nietzsche-Zitate aus dessen Tischrede. Zustimmende und ablehnende Stimmen wurden laut. Ich erinnere mich nur noch an die Gedanken meines Vaters. Ebenso wie Martin Luther und Emanuel Kant sei er kritisch gegenüber jeder Form des Gewissenszwanges, der vom Klerikalismus und Dogmatismus ausgehe. Nietzsche stamme aus einem evangelischen Pfarrhause und habe vorausgesehen, daß das Christentum dem Ansturm des Materialismus, Nihilismus, Fortschrittsglauben und der modernen Ideologien nicht gewachsen sei. Sein "Gott ist tot" verstehe er so, daß die Menschen des 19. Jahrhunderts Gott in ihrer Seele sterben gelassen haben. Nietzsche [118] habe den Niedergang der Kultur, des Gottesglauben, der Kunst geahnt. Er habe darunter gelitten und ihn nicht ersehnt. Sein Übermensch könne nicht die Bürde der Verantwortung auf Gott, das Vaterland, die Klassen, die Kollektive abwälzen. Der Mensch könne sich der ihm auferlegten Mündigkeit nicht entziehen. Auf die freie Tat nach dem moralischen Gesetz in uns komme es an. Damit er sie vollbringen könne, müsse der neue Mensch die Ketten sprengen, die ihm von der vorherrschenden Moral angelegt seien.


 
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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004