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Horst Ernst Krüger:Die Geschichte einer ganz normalen Familie aus Altthorn in Westpreussen kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger |
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Wie ein Sonnenstrahl das Herz meiner Mutter berührte |
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"Waren", so fragte ich meine Mutter anläßlich eines gemeinsamen Urlaubs am Bodensee, "die zehn oder fünfzehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg auch Deine glücklichsten Jahre? Das Bild der Familie Krüger am Kaffeetisch im Garten er[55]weckt den Eindruck einer heilen Welt. Auf den Gesichtern liegt der Ausdruck entspannter Gelassenheit und Heiterkeit." "Ich kann diese Frage nicht mit ja oder nein beantworten", sagte sie und erzählte, wie sie die Zeit um die Jahrhundertwende erlebt hatte. Ihre Kindheit und Jugend war durch das Lebensgefühl überschattet, das in ihrem Elternhaus herrschte. Von vierzehn geborenen Kindern waren nur vier groß geworden. Es war eine Zeit ungeheuren Wandels auf allen Lebensgebieten. Die Familie Krüger war in jeder Hinsicht mit der Zeit gegangen. Die Großeltern Huhse lebten in einer inneren Distanz zu ihr. Sie hinkten in ihrem Bewußtsein fast allen Elementen des modernen Lebens nach. Nehmen wir nur beispielsweise ihr Verhältnis zur modernen Medizin. In Thorn gab es Ärzte, sie hätten sie konsultieren können. Sie taten es nicht. Meine Mutter wußte keine Erklärung dafür. Zehn ihrer Geschwister starben im zweiten oder dritten Lebensjahr. Das prägte die Liebesfähigkeit der gesamten Familie. Eltern und Geschwister waren wegen der hohen Kindersterblichkeit gezwungen, sich gegen zuviel Gefühl dem Neugeborenen gegenüber zu wappnen. Die Eltern meiner Mutter liebten ihre Kinder auch. Sie gingen ihnen gegenüber aber auf eine uns heute völlig unverständliche Distanz, um sich nicht dem zerstörerischen Ansturm von Leid auszusetzen, wenn wieder eins dieser hübschen und fröhlichen Kinder gestorben war. Meine Mutter erzählte mir eine Geschichte, die die bedrückende Atmosphäre in ihrem Elternhaus beleuchtet. Ein älteres Bauernehepaar aus Gurske sei in jeder Woche einmal die Unterstraße entlang zum Markt nach Thorn gefahren. Sie habe wiederholt beobachtet, wie ihr kleiner Bruder, er mag drei Jahre alt gewesen sein, immer dann, wenn dieses Ehepaar an ihrem Hof vorbeigefahren sei, die Mütze gezogen und freundlich lächelnd etwas geflüstert habe. Das betreffende Ehepaar sei darüber so erfreut gewesen, daß es in der nächsten Woche bei ihren Eltern anhielt und ihnen sagte, wie sehr sie über den kleinen Jungen erfreut seien, der sie immer so höflich grüße. Meine Mutter sei dabei gewesen, habe aber keinen Ton gesagt. [56] Als das Bauernehepaar weg war, habe sie ihren Eltern gebeichtet, daß ihr kleiner Bruder die Mütze schwenkend vor sich hingeflüstert habe: "Guten Tag, Teufel. Guten Tag, Teufel. Guten Tag, Teufel." Auch dieser Bruder war noch vor seinem vierten Geburtstag gestorben. Eine herzliche Zärtlichkeit, wie sie in so vielen bürgerlich-bäuerlichen Familien üblich ist, konnte sich bei Huhses wegen der für die Zeit ungewöhnlich hohen Kindersterblichkeit nicht einstellen.Meine Mutter hatte das ganz andere Leben auf dem Nachbarhof von Krügers täglich vor Augen. Sie sah auch den nur zwei Jahre älteren Joachim, meinen Vater, heranwachsen. Oft hatte sie ihn beobachtet, wie er das Gesangbuch in der Hand haltend zur Konfirmandenstunde ging. Eines Tages, sie saß gerade auf der Wiese hinter der Scheune, sah sie, wie er wieder einmal den Hof verließ, um über die Steinbrücke zur Unterstraße und von dort weiter zum Pfarrhaus zu gehen, wo der Konfirmandenunterricht stattfand. Meine Mutter stand auf, ging ihrem Jugendfreund ein Stück auf der Unterstraße entgegen, blieb dann aber doch im Halbschatten einer Baumgruppe stehen. Sie konnte von hier aus Joachim beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Er war noch hundert Meter vom Standort meiner Mutter entfernt, als plötzlich ein Sonnenstrahl vom Goldschnitt seines Gesangbuches so gebrochen wurde, daß er sie wie ein Pfeil in die Brust traf. Nur symbolisch, versteht sich. Seit diesem Tage hatte meine Mutter immer Herzklopfen bekommen, wenn sie meinen Vater von ihrem verschwiegenen Plätzchen aus zum Konfirmandenunterricht gehen sah. Ihren Eltern und Geschwistern hatte sie von dem seltsamen Erlebnis nichts erzählt. Aus dem gleichen Jahr 1899 liegt eine vergilbte Fotografie ![]() Meine Mutter ließ den Nachbarssohn seit dem Erlebnis mit dem Sonnenstrahl nicht mehr aus den Augen. Die Jahre vergingen, und sie reifte zu einem attraktiven jungen Mädchen Meine Mutter traf sich mit meinem Vater in dieser Zeit häufig nach Feierabend zu gemeinsamen Spaziergängen. Ach bitte, allzu genau wird sie mir auch nicht auf die Nase gebunden haben, was sich im Halbdunkel lauer Sommerabende abgespielt hatte, wenn sie händchenhaltend den Feldweg zum Damm und wieder zurück gewandert waren. Sie hatten von diesen gemeinsamen Spaziergängen ihren Eltern nichts erzählt. Keiner sollte von ihrem Glück etwas erfahren. Eines Abends waren sie wieder einmal zum Deich und auf dessen Krone zur Gursker Kirche gegangen. Dabei hatte meine Mutter ihren Hausschlüssel verloren. Den hatte, wie peinlich, ausgerechnet mein Großvater gefunden und ihr mit einem bittersüßen Gesichtsausdruck am nächsten Tag zurückgegeben. Nun war es mit der Heimlichkeit dieser Treffen vorbei. Meine Mutter zog sich, immer ihren Aussagen nach, für längere Zeit krampfhaft zurück. Mein Großvater hatte sich für die Zukunft seines Sohnes entsprechend seiner überheblichen Wesensart Illusionen gemacht. Darum wollte meine Mutter ihre Gefühle unterdrücken. Eine offene Zurückweisung, gleichgültig, ob von Seiten meines Großvaters, die sie am meisten fürchtete, oder von Seiten meines Vaters, die sie eigentlich nicht erwarte [58]te, wäre für sie eine unerträgliche Demütigung gewesen. Mein Vater wurde als Einjähriger![]() Ihre Eltern waren, erzählte meine Mutter weiter, zwar sehr tüchtig gewesen, bewirtschafteten aber ihren Hof nicht so erfolgreich wie die Eltern meines Vaters. Ihr Vater hielt an den überlieferten Methoden fest. Die Atmosphäre im Elternhaus war stets bedrückend, da so viele Geschwister im Kindesalter gestorben waren und sie oft zu ihrer Mutter gesagt hatte, wenn sich schon wieder eine erneute Schwangerschaft andeutete: "Ja, Mutter, hast Du denn schon wieder dieses Kleid an?" Ihr Vater hatte als Bauer resigniert und sich im Einvernehmen mit ihrer völlig erschöpften Mutter bereit erklärt, den Hof meinen Großeltern väterlicherseits zu verkaufen. Danach war sie mit ihren Eltern nach Thorn gezogen, die sich dort ein schönes Haus mit einem großen Gartengrundstück gekauft hatten. Adolf Heinrich Krüger war in den Verkaufsverhandlungen nicht kleinlich. Die Eltern waren nun von der schweren Last des ländlichen Haushalts und des Hofes befreit gewesen. Meine Mutter hatte sich durch diese Vorgänge der Familie Krüger gegenüber gesellschaftlich unterlegen gefühlt. Hermine Krüger, meine Großmutter, hatte sie das nie spüren lassen. Sie verhielt sich nach wie vor zu ihr wie eine Mutter zu ihrer Tochter. Soweit die subjektive Wahrheit meiner Mutter. |
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Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 15.01.2005