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Richard WoltschlägerAbschied von Thorn - vor 50 JahrenausDer Westpreusse, 1970, Nr. 2, S. 6 |
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[6] Es war am 21. Januar 1920, als für mich die Abschiedsstunde von der von mir so sehr geliebten Stadt Thorn schlug. Auf dem Stadtbahnhof erwartete ich den Zug, der mich für immer aus dem Paradies meiner Jugend hinwegführen würde. Der sogenannte "Friedensvertrag" von Versailles hatte den polnischen Korridor geschaffen, morgen sollten polnische Truppen in die alte deutsche Ordensstadt einrücken, nachdem Oberbürgermeister Hasse am gestrigen Tage die Stadt befehlsgemäß seinem polnischen Nachfolger übergeben hatte. Die deutsche Reichsregierung hatte den Beamten die Weisung erteilt, ihre Dienststelle aufzugeben und sich zunächst einen neuen Wohnort im Reich zu suchen, wenn sie es mit ihren Gewissen nicht vereinbaren könnten, in polnische Dienste zu treten. In unserer evangelischen Volksschule in Podgorz hatten wir fast ausnahmslos die Kinder der vielen Eisenbahnbeamten des Thorner Hauptbahnhofes, die alle die Stadt verlassen würden, wenn sie ihre Arbeit an die Polen übergeben hatten. Also entschlossen sich, soweit ich mich heute entsinne, alle Lehrer unserer Schule, das deutsche Städtchen Podgorz am jenseitigen Ufer der Weichsel zu verlassen. Die ungeheuere Schwere dieses Entschlusses kann nur der ermessen, der ihn selbst fassen mußte! Thorn, die damals beinahe 700 Jahre alte deutsche Ordensstadt, Königin der Weichsel, hatte mich 1909 aufgenommen, als ich mit 14 Jahren die dortige Präparandenanstalt und später das Königliche Lehrerseminar besuchte, um Lehrer zu werden. In keiner anderen Stadt hätte ich eine schönere Jugend verleben können. Hervorragende Lehrer bereiteten uns auf unseren Beruf vor und erzogen uns zu Menschen, die im späteren Leben ihren Mann standen. Und das geschah in einer so feinen Weise, daß neben Arbeit und Pflichterfüllung die Freude des Jugendlichen am Leben nie zu kurz kam. Unseren neuerbauten "Kasten" am Ende der Schulstraße in der Bromberger Vorstadt habe ich nie als solchen empfunden. So durften wir im Artushof bei der bekannten Elise Funk die Tanzkunst erlernen, und von unserem hochgeachteten Seminardirektor John erhielten wir sonntags Urlaub zu Ausflügen nach den Bonschkrug oder in den Ziegelei-Park. So oft wir wollten, durften wir im Thorner Stadttheater Opern, Operetten und Schauspiele besuchen. Noch heute schlägt mein Herz schneller wenn ich daran denke, wie ich damals vor 60 Jahren diese auf den Vierzehnjährigen wie eine Großstadt wirkende schöne Stadt "eroberte". Was für ein Verkehr in der Breiten Straße mit den großen Geschäften, unter den Fußgängern zahlreiche Soldaten, vereinzelt auch russische Offiziere, die von der nahen Grenze kommend hier ihre Einkäufe tätigten. Wie sehr beeindruckte mich der große Marktplatz mit dem gewaltigen Rathaus in der Mitte und dem Denkmal des größten Sohnes der Stadt, Nikolaus Coppernicus. Der Artushof, die Altstädtische Kirche, das Postamt, große Geschäftshäuser und Hotels umrahmten den Platz. Nicht weit davon entfernt die Kulmer "Esplanade" mit dem Kulmer Tor, dem 61er-Denkmal und dem Stadttheater. Thorn war auch eine Stadt der Kirchen: Altstädtische und Neustädtische Kirche, Garnisonkirche, Marien-, Johannis- und Jakobikirche und eine kleine reformierte Kirche. Über den breiten Weichselstrom, die Basarkämpe und die tote Weichsel spannte sich die fast 1000 Meter lange Eisenbahnbrücke. Unvergleichlich schön bot sich dem Beschauer in der sinkenden Abendsonne am jenseitigen Ufer die Silhouette der Stadt mit ihren vielen Türmen, der Stadtmauer und den Stadttoren. Diese Stadt mußte man liebgewinnen, für mich wird sie bis zu meinem Tode die geliebteste bleiben! Der Erste Weltkrieg, den ich als Kriegsfreiwilliger beim Thorner Feldartillerie-Regiment Nr. 11 miterlebte, endete mit der Niederlage unseres Vaterlandes. Welche schweren Opfer er von unserem Volk fordern würde, ahnte man nach dem Waffenstillstand noch nicht. Man konnte und wollte nicht glauben, daß der größte Teil Westpreußens polnisch werden sollte. Am 21. Januar 1920 mußten wir uns dann mit der furchtbaren Wirklichkeit abfinden. Im Stadttheater fand die letzte deutsche Aufführung statt, Wilhelm Kienzls Oper "Der Evangelimann". Es waren Stunden tiefster Ergriffenheit, aber auch schmerzlichster Trauer, und viele tränende Augen waren auf die Bühne gerichtet. Als dann Matthias Freudhofer, der Evangelimann, mit bebender Stimme sein Lied "Selig sind, die Verfolgung leiden . . ." beendet hatte und der Dirigent bei geöffneter Bühne den Taktstock niederlegte, da rauschte nicht wie sonst Beifall auf, sondern die Zuschauer erhoben sich und verharrten minutenlang schweigend in tiefster Ergriffenheit, um dann still das Haus zu verlassen. Der Weg führte nun in die dunkle Ungewißheit der kommenden Tage. Aus Thorn wurde Torun. Für mich ist es heute nach 50 Jahren noch immer Thorn, das Paradies meiner Jugend, und wird es bleiben bis an mein Ende. Richard Woltschläger |
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letzte Aktualisierung: 05.09.2009