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Rathausturm mit Copernicus-Denkmal

Werner Schienemann

An zwei Brücken



aus

Westpreußen-Jahrbuch Band 14, Münster 1964, S, 47ff

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[47] Der Mann lehnt am hellgrünen Geländer der neuen Kölner Brücke, die mit ihren Bogenstreben die Silhouette der Stadt mit ihrem mehrspitzigen Dom zerfächert.

Der Mann blickt hinab auf die Rheinflut, die unter dem Stahl- und Steinband davonschnellt. Auf die Dampfer und Kähne, die zwischen den Stützpfeilern verschwinden. Zuletzt mit dem Heck, das die Flagge des Herkunftslandes trägt. Der blitzblanke Motorfrachter muß ein Holländer sein - mit den Farben rot-weiß-blau, das da drüben, zur Stadt hin, ein Schweizer, er zeigt das weiße Kreuz im roten Feld, weiter zurück noch ein Deutscher, ein Franzose, wieder ein Deutscher. Auf dem zweiten Kahn mit deutschen Kennzeichen, den die schwarze Schüttung der Ruhrkohle fast unter den Wasserspiegel drückt, gibt eine blonde Frau, halb vom Ruderhaus verdeckt, ihrem Säugling die Brust. Alles gleitet, unablässig, wie von unsichtbarer Hand gezwungen.

[48] Ende September 1939 war es. Zwei Wochen zuvor hatten die deutschen Truppen den Einmarsch vollzogen. Der in dem kleinen Städtchen am Südufer eingesetzte Ortskommandant ist mit seinem Infanteriezug bemüht, die bürger liche Sicherheit wiederherzustellen und zu stärken. Er hat ein Stadtoberhaupt beauftragt und dem eine Gruppe Selbstschutz zur Seite gestellt. Den Laufsteg zur Kreisstadt nach drüben für die Heranschaffung lebensnotwendiger Dinge unerläßlich, haben schon die Pioniere der Wehrmacht gebaut. Sobald es dunkelt, konnte das Hindernis des Stroms nur noch auf die Weise überwunden werden, der Betrieb der Kahnfähre wurde dann eingestellt.

Er ist der Anführer des Selbstschutzes gewesen, er hat klar gesehen, wie wichtig der Plankennotbehelf genommen werden mußte. - Ein Schiff in seiner Nähe unten gibt heftig Signal, er blinzelt ein wenig: Auch der Kahn mit der blonden Frau und dem Säugling an der Brust ist verschwunden. Aber die andere Frau wächst aus dem Schichtengrund seines Gedächtnisses, als er die Augen wieder fest schließt, um so deutlicher empor.

Eines späten Abends war ein polnischer Arbeiter zu ihm auf die Selbstschutzwache gelaufen gekommen und hatte ihn um Beistand angefleht. Seine Frau müsse, bei der heiligen Jungfrau, so schnell wie möglich über den Fluß in das große Krankenhaus. Die Entbindung war zwar geglückt, doch sei jetzt hinterher ohne Aufschub ein chirurgischer Eingriff nötig. Die Hebamme war gleich danach erschienen und hatte ihre füllige Gestalt durch die schmale Barackentür gezwängt. Die gestammelten Sätze des Polen hätten ihre Richtigkeit, ohne ärztliche Hilfe hätte die Gebärerin nicht mehr lange zu leben. Er, Fritz Neugebauer, hat rasch nachdenken und nicht weniger rasch handeln müssen. Sollte er zum Bürgermeister schicken oder besser zum Ortskommandanten? Aber das würde sündhaft viel Zeit kosten, und ob der Bote einen von den beiden in diesen Tagen der tausend Zufälligkeiten überhaupt antreffen würde? Er selbst mußte entscheiden. Einen schmalen Steg benutzen, da keine Brücke für vier Wagenreihen zur Verfügung stand. Und wenn es ihm sonst im Leben auch nie darauf ankam, an die Spitze zu treten und anderen seinen Willen aufzupressen, in Fällen, wo es um ein einmaliges Leben ging, sprang eine Kraft in ihm auf, und Menschen und Dinge ordneten sich ihm dann wie von selbst unter. Immer, wenn er erkannte, daß er eine Verantwortung trug, die ihm keiner von den Schultern nehmen konnte.

So hatte er sehr schnell seine Anordnungen getroffen. Dem verängstigten Polen einen Zettel, für die Feuerwehr mitgegeben, den ihm zugeteilten Sanitäter um Mitwirkung auch für diesen Sonderfall gebeten und war mit ihm zu der in Sterbensnot Schwebenden geeilt. Die Feuerspritze mit den Feuerleitern und vier Mann Besatzung hatte nur geringfügig auf sich warten lassen. Das glühende und schweißnasse Gesicht mit den schwarzen Haarsträhnen mahnt zur höchsten Eile. In Federbetten eingehüllt, wird die Fiebernde auf die kürzeste Leiter gebunden, Sanitäter, Hebamme und er sitzen mit auf, und so beschleunigt, wie es die Umstände nur dulden, rollen sie zur Brückenauffahrt.

Er heißt die Feuerwehrmänner die Leiter anfassen, die sich in eine Tragbahre verwandelt. Im Gleichschritt schaffen sie ihre stöhnende Last bis an den Spreng abschnitt im Brückentrakt; dann schrickt ihre Samariterpflicht vor ungeahnten Hindernissen zurück. Wie sollen vier Mann die beladene Leiter waagerecht um die Krümmungen des Laufstegs herumbringen? Die Sprengreste der Brücke reckten sich wie scharfkantige Eisgrate vor der Handvoll Menschen auf.

Der Sanitäter reicht die Laterne, die ihnen die Richtung über den Strom erhellt, der Hebamme, er selbst hängt ihr seinen Karabiner um, und zu sechsen bewegen sie, ums Gleichgewicht besorgt, das arme Weib, das sich den [49] Deutschen schicksalergeben anvertraut, um die sperrigen Stahlfetzen herum. Mehrmals sind die ächzenden Träger genötigt, die Behelfsbahre weit über das Steggeländer bis über die schwarze Flut zu schieben, das andere Ende achtsam niederstemmend, während sie gleichzeitig damit eine Halbkreisdrehung vollführen. - Fritz Neugebauer fährt zusammen und öffnet die Augen. Die Sonne bescheint den Strom des Westens, über dem er jetzt steht, nicht mehr, die Flüssigkeit unten hat Bleifärbung angenommen. Ihn schaudert bei der Vorstellung, die Leiter wäre damals ihren verkrampften Händen entglitten und mit der festgebundenen Wöchnerin in die Strömung hinuntergestürzt! Ein entsetzlich qualvolles Ende, ein hilfsloser Säugling der Ernährerin beraubt!

Sie haben damals nicht locker gelassen. Mochte die Weichsel sich zentnerlastig und unheildrohend an den Brückenstümpfen brechen, ihr Werk der Barmherzigkeit mußte erfüllt werden. Und so sind sie schließlich, ab und zu nur einen hoffenden Blick gegen den Sternenhimmel und auf den wachsenden Schattenriß von St. Johann zu ihrer Rechten werfend, doch an das andere Ufer gelangt. Die Hebamme und der Sanitäter überzeugen sich, als sie die Bahre zum Verschnaufen abgestellt haben, daß sie keine Tote tragen. Die Polin hat durchgehalten. Als sie die fiebergeweiteten Augen auftut und die Uniform des Sanitäters wahrnimmt, sagt sie: "Deutscher Soldat gut. Hilft Polenfrau!" Und noch einmal mit ermattender Stimme, während ihre Lider sich schon wieder vor Erschöpfung senken: "Deutscher Soldat gut."

Ihn aber hatten schon die nächsten Überlegungen bedrängt. Wieviel kostbare Minuten würden sie noch bis zum Kreiskrankenhaus brauchen? Und würde dieses, überbelegt, wie man hörte, ihre Patientin aufnehmen? Etwas hatte ihnen das Glück geholfen, damals. Ein leerer Militäromnibus fährt vorüber, der Fahrer ist Mensch und hält an. Eine Scheibe wird heruntergekurbelt, die Leiter mit der Frau hineingeschoben. Sie fahren alle mit; durch das enge Tor in die Innenstadt hinein, am wuchtigen Block des gotischen Rathauses vorbei, mit dem Astronomen als Wächter an der rechten Ecke.

Aber noch immer kann ihr Werk scheitern. Nur wenig Licht dringt durch die Fensterspalten des in der Dunkelheit abwehrend erscheinenden Ziegelbaus, den sie schließlich in einer Seitenstraße links erreichen. Ihrer aller Augen und Gedanken richten sich auf den Eingang. Er selbst tritt heran. Schellt und wartet. Nichts rührt sich. Er schellt abermals. Sie durften die Kranke doch nicht vergeblich über das trennende Wasser gebracht haben! Noch einmal. Da geht im ersten Stock über dem Eingang ein Fenster auf.

"Was soll's? So spät noch. Ist es dringend?"

Dem ärgerlichen, scharfen Klang antwortet er mit heiserer, schon etwas von aufsteigendem Ingrimm bebender Stimme:

"Ja, eine Schwerkranke. Hat gerade geboren. Kommt ohne Eingriff nicht durch."

Die Schwester zieht den Kopf zurück, offenbar, um fragen zu gehen. Nach kurzer Frist erscheint der Oberkörper des Nachtdienstarztes im Lichtrechteck:

"Hat's nicht wenigstens Zeit bis morgen früh? Wer ist es denn?"

"Eine polnische Arbeiterfrau, die entbunden worden ist."

Der aus dem Fenster schaut, scheint Stahl zu werden.

"Und deswegen bimmelt ihr Sturm? Diese Pollacken sollen von uns aus verrecken. Haben die nicht genug Deutsche hier herum ermordet?"

[50] Die heftiger gewordene Redeweise hat einige Patienten an die Fenster und späte Passanten an die inzwischen aus dem Bus herabgeholte Leiterbahre gelockt.

Auf den Einwand eben vermag er im Augenblick nichts zu entgegnen. Was mögen die Neugierigen an der Hauswand und hier unten denken? Dasselbe, was ihm durch den Kopf schießt? Sind in dem Dorf, in dem er eigentlich zu Hause ist, nicht vierzehn Deutsche diabolisch umgebracht worden? Haben nicht Angehörige des gleichen Volkes wie diese Wöchnerin und ihr Säugling aus der kleinen Stadt, woher sie jetzt gekommen sind, fast alle deutschen Landsleute, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, wie das Vieh ostwärts getrieben? Schon schickt der Arzt sich an, das Fenster über dem Eingang zu schließen. Er, Fritz Neugebauer, aber reißt sich zusammen; ohne genau zu wissen warum, und ruft hinauf:

"Herr Doktor, ist es nicht Ihre Pflicht, allen Kranken zu helfen?"

Das Fenster geht zögernd ein wenig weiter auf, und viele Ohren lauschen.

"Acht Stunden habe ich heute operiert, jetzt ist es Nacht, das geht über die Kräfte." Schon will der Weißgewandete den Fensterflügel zudrücken.

Da hat er noch einen Versuch gemacht, Zorn, heller Zorn ist in ihm auf gestiegen.

"Es geht um ein Menschenleben, wie wollen Sie das verantworten?"

Dabei dünkt er sich selbst unlogisch, weil er für ein einzelnes Leben kämpft, während seit Jahrtausenden Hekatomben in die abgrundtiefe Gruft geschleudert werden.

"Mann, Sie stören!" sagte der oben gedämpft, doch klingen seine Worte wie Schreien. "Suchen Sie einen polnischen Arzt, der ist für das Kroppzeug da; ich kümmere mich nur um Deutsche."

Alle Scheu hat er da vor den Mächtigen und vor der Unentschiedenheit der Zuhörenden fahren lassen.

"Und wir? Die wir die Frau gebracht haben? Über die zerstörte Brücke? Der Busfahrer, der Sanitäter, die Hebamme und ich? Sind wir keine Deutschen? Wir haben versucht, der Frau das Leben und dem Kinde die Mutter zu retten. Auch der Polin. Soll das umsonst gewesen sein?"

Laut tutet es in des zeitversunkenen Mannes Ohren. Fritz Neugebauer zwingt die Lider in die Höhe. Über der Oberfläche des Rheins liegt schon neblige Dämmerung. Doch noch einmal wendet er sich horchend in die Vergangenheit zurück. Eine Tür hatte sich knarrend vor ihm aufgetan, der Arzt stand selber vor ihm. Scham machte ihn wortkarg und rauh.

"Los, herein mit dem Weibsbild. Hat gerade noch gefehlt." - Der späte Wanderer über dem Rhein schaut auf und atmet befreit die kühle Luft ein. Begann draußen schon die Dunkelheit sich herabzusenken, in seinem Innern ist es licht geworden. Die Polin damals wurde gerettet. Aber nicht nur die Polin, die später mit ihrem Mann, der seine Mütze scheu in den Händen drehte, in die Baracke sich bedanken kam. Auch das Bild vom Menschen, im Sturm schon arg verschmutzt und verrostet, war ein bißchen geputzt worden.

Fritz Neugebauer entschließt sich weiterzugehen, dem Stadtteil zu, wo er jetzt Wohnung hat. Seine Schritte sind weniger zaghaft als vorher, er spürt, wie seine Beinmuskeln arbeiten. Und was er im Bewußtsein mitträgt, ist das Bild des Stromes unten, wie er zuvor im Tageslicht sich dahinwälzte: Viele, viele Schiffe und Kähne schwimmen auf seinem Rücken und zeigen die Farben europäischer Nationen.


 

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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.09.2004