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Rathausturm mit Copernicusdenkmal

Dr. P. Roggenhausen

Jahreswechsel im alten Thorn

Erinnerungen an die Zeit vor dem 1. Weltkriege



Der Westpreusse 1/1966, Seite 6/7

Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text
Den folgenden Beitrag von Dr. P. Roggenhausen stellt uns unser Landsmann Paul Kollmann zur Verfügung. Der Beitrag war Ende 1929 in der Thorner Heimatzeitung "Das Ordenskreuz" erschienen, die Paul Kollmann herausgegeben hatte.
   

Die Zahl in blauer eckiger Klammer, z.B.: [23], bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang im Original.

[6]  Die scharfen Kanten der Wälle schimmerten weiß. Auf den Bastionen und Ravelinen, auf Glacis und Grabenrand lag der Schnee so glatt und regelmäßig, als wäre er mit der Kelle aufgetragen. Über die Dächer der Alisadenschuppen und Pulvermagazine im Glacis hing er in dicken Wülsten, und auf dem gedeckten Weg der Kontreeskarge häufte er sich zu Schanzen. Die Wallgräben deckte eine starke Eisschicht, und an dem Mauerwerk der Grabenwehren ließ der Frost bizarre Salpeterlinien heraustreten. An den Toren stapften die Posten in unförmigen Filzschuhen, und wenn sie - klapp, klapp! - das Gewehr präsentierten, stachen ihre großen tuchenen Fasthandschuhe ganz komisch in die kalte Luft. Ja, der Winter meinte es gut in Thorn, und über grüne Weihnachten hatten wir uns selten zu beklagen. Aber die weißen Wälle und die glitzernden Gräben und die schildernden Posten an den Toren gaben der Stadt einen warmen Ausdruck des Geschütztwerdens und Geborgenseins.

Wenn ein Zug über die Weichselbrücke fuhr, dann sangen die Schienen und die ganze Brücke klang mit. Und die Leute auf dem Stadtbahnhof freuten (s)ich, wenn sie dies Klingen hörten. Denn die Züge brachten den Festtags-besuch, und der Stadtbahnhof sah viele frohe Gesichter und Umarmungen und viel Händeschütteln und Geküsse. Mir ist es immer geschienen, als ob nach Thorn viel mehr Menschen zum Weihnachtsfest und zur Jahreswende fahren als nach irgendeiner anderen Stadt der Welt. Und von wo sie alle kamen! Einer ist zwei Jahre hintereinander aus dem Nordwesten Englands zu Weihnachten nach Thom gefahren, das erste Mal mit einem funkelnagelneuen Doktordiplom in der Tasche. Das war ich. - Wenn der Berliner Zug bei Schlüsselmühle vorbeiratterte, dann wußte ich genau: jetzt gucken sie alle nach links aus dem Fenster, ob sie nicht den Rathausturm sehen und den wuchtigen Klotzturm der Johanniskirche und die Stadtmauer mit Nonnentor und schiefem Turm. Und wenn die Menschen - echt norddeutsch und echt thornerisch - die ganze Fahrt von Berlin kein Wort miteinander gesprochen hatten, - hier tauten sie auf und wurden gesprächig. Drüben winkte ja die Vaterstadt!

Je näher die Tage kamen, desto lebendiger und bunter wurde das Leben auf den Straßen. Auf unserm großem Korso, der Breiten Straße, war ein ewiges Grüßen. Fremde Uniformen tauchten auf. Das waren die Urlauber aus den Garnisonen im Reich. Weiße Kürassierkoller und grüne Jägerröcke, hellblaue Dragoner und schwarze Husaren, Extramäntel und Dolmans. Gardelitzen und fremde Kokarden konnte man sehen. Dazwischen plötzlich russische Offiziere mit Tellermützen, den Säbel mit dem Korb nach hinten umgeschnallt, riesige Achselstücke auf der Schulter, prachtvolle Juchtenstiefel an den Beinen. Die kamen auf "kleinen Grenzschein" rüber, um für ihre Damen bei Seelig und Elkan, bei Chlebowski und Stephan einzukaufen, und die deutschen Soldaten mußten sie grüßen. Aber zweimal sahen wir Uniformen, die uns Jungens beinahe aus dem Gleichgewicht brachten: da war ein Infanterist mit schwarzem Waffenrock und einem Totenkopf an schwarzer Mütze. Mein Freund Julius, der für alles Militärische Autorität war - denn sein Vater war Kaserneninspektor - erklärte, das sei einer von der Lützowschen Freischar. Es war aber ein braunschweigischer Grenadier. Und der andere, ein ganz junger Mensch, hatte breite rote Generalsstreifen auf einer dunkel- blauen Reithose! Julius sagte, so ein junger General könnte nur ein Prinz sein. Es war aber der cand. jur. Moser, der sein Jahr bei einem bayerischen Feldartillerie-Regiment abdiente.

Um das alte Rathaus herum war der Weihnachtsmarkt aufgebaut. Ach, wie das nach Pfefferkuchen duftete! Und nicht nur Katharinchen und Steinpflaster und Scheibchen gab es, - auch Reiter auf roten Pferden mit Zaumzeug und Litzen aus weißem Zuckerguß, und Herzen und Männer und Frauen in phantastischen Kostümen mit gleichen Pfefferkuchengesichtern und knallrot aufgegossenen Backen. Die waren nach uralten Formen gemacht, und man konnte volkskundliche Studien an ihnen machen. Schmecken taten sie weniger schön, aber sie gehörten zum Thorner Weihnachtsmarkt, und die Leute vom Lande kauften sie gern. In den Spielwarenbuden daneben konnte man Sachen sehen, die jetzt nur noch in Museen zu finden sind: Holzpuppen aus dem Erzgebirge, Engelleuchter und Pferdchen und Soldaten aus der Hausindustrie des Thüringer Waldes. Schön sah es aus, wenn abends all [7] die Herrlichkeiten im spärlichen Glanz der Kerzen und Handlaternen glitzerten.

In den Häusern wurde inzwischen fleißig gebacken. In manchen Familien hatten sich alte Pfefferkuchenformen erhalten, die wurden mit Nudelrollen in den Teig gewalzt. Beim Backen stellte sich dann heraus, daß die schönsten Formen verschwommen herauskamen. Das passierte jedes Jahr, und jedes Jahr stellte die Hausfrau fest, daß die modernen Treibmittel daran schuld waren, und jedes Jahr wurden die Formen doch wieder vorgeholt. - In der Küche sprangen gebrühte Mandeln aus den Schlauben und wurden zu Marzipan verarbeitet. Zum Mandelnspringen meldeten sich die Kinder als Freiwillige, denn da sprang so manche Mandel in den Mund. Wenn es aber zufällig eine bittere war, dann wurden furchtbare Grimassen geschnitten, und alle mußten lachen. - Aus Puderzucker wurden Kügelchen gedreht und in Kakaomasse getaucht, das gab die Pralinees für die bunten Teller. - Und am Heiligen Abend vormittags sah man die Dienstmädchen die Napfkuchen und die Blechkuchen zu Bäcker Seibicke in der Baderstraße oder zum Bäcker Lewinsohn am Altstädtischen Markt tragen. Da wußte man, daß jetzt wirklich Weihnachten ganz nahe war.

Abends riefen die Kirchenglocken zur Andacht. In den guten Thorner Familien war es immer noch Sitte, vor der Bescherung zur Kirche zu gehen. Dies eine Mal im ganzen Jahr war ja die ganze Familie vereint; Söhne und Töchter waren aus der Ferne gekommen, und nun saßen sie alle zusammen in den Familien-Kirchenstühlen, und am Altar brannte der Weihnachtsbaum und die Orgel spielte die alten, lieben Weihnächtslieder. Wie schön war dann die Bescherung zu Hause. Und während Große und Kleine ihre Überraschungen auspackten und Julklapps durch die Tür flogen, klangen vom Rathausturm die Posaunen "Stille Nacht", und die alte Windfahne mit dem Preußenadler knarrte dazu den Takt.

Am ersten Feiertag wurden Besuche gemacht. Die Söhne aus der Fremde mußten doch zeigen, was aus ihnen geworden war. Die Garnison aber, soweit sie dageblieben war, hatte Kirchgang. Durchs Bromberger Tor stapften die Ulanen, heute in Paradeuniform. Über die Brücke kam die Infanterie, und vom Wilhelmsplatz die Artilleristen mit ihren hohen Helmen mit der Kugel drauf. Um 12 Uhr war ein Promenadenkonzert, und dann Frühschoppen im Artushof. Da war ein langer Tisch mit Studenten: Konigsberger Germanen, Breslauer Germanen, Leipziger Germanen, Hallenser Germanen, alles Burschenschafter, dann ein Tisch mit Korpsstudenten, ein paar Ländsmannschafter, und dann so die übrigen: ATVer, VDSter und ähnliche Leutchen. Aber alles hübsch getrennt, wie sich das für Thorn gehörte. Alte Freunde begrüßten sich, neue Schmisse wurden bewundert, es wurde viel renommiert, und manchmal sprach auch einer vom Studium und vom Examen. Allmählich mischten sich die Tische, und dann ging man nach Hause, wo das Feiertagsessen wartete: ein schön gespickter Hase oder ein fetter Karpfen oder eine gefüllte Pute. Und abends besuchten sich die Familien zum Nüsseknabbern und Pfefferkuchenknuspern.

Ja, es war schön, Weihnachten im alten Thorn! Und dann der Jahreswechsel!

 

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© 2007  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 23.02.2007