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Rathausturm mit Copernicusdenkmal

Heinz Heuer:

Reinhold Heuer 1868 - 1946

Biographische Mitteilung über den Thorner Historiker und Kunsthistoriker

aus:

THORN - Festschrift zur 750-Jahr-Feier der Stadt Thorn, Seite 153 ff,
Hrsg.: Horst Ernst Krüger 1981

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[153] Mein Vater Reinhold Heuer, geboren als Sohn eines Zimmermanns, Bautischlers und Kleinbauern am 9. Dezember 1868 in Rudak, Kreis Thorn, war nach einem Theologiestudium von 1900 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1933 Pfarrer an der evangelischen St. Georgenkirche in Thorn-Mocker. In der westpreußischen Geschichtsschreibung hat er sich mit zahlreichen Veröffentlichungen zur politischen und kirchlichen Geschichte Thorns, insbesondere aber mit kunstgeschichtlichen Arbeiten über die bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts erhaltene kirchliche und profane Kunst der Stadt einen Namen gemacht. Seine 1931 bei W. F. Burau in Danzig gedruckte Stadtgeschichte "Siebenhundert Jahre Thorn 1231 - 1931" - gedrängt, übersichtlich und mit souveräner Quellenbeherrschung geschrieben - ist die letzte in deutscher Sprache veröffentlichte Stadtgeschichte, fast ein Jahrhundert nach Julius Wernickes zweibändiger "Geschichte Thorns" (1839 - 1842). Seine 1916 in Thorn erschienene Arbeit über die "Thorner Kunstaltertümer" - in Einzelaufsätzen zuvor schon in den Mitteilungen des Copernicus-Vereins veröffentlicht - gilt bis heute als die maßgebende, umfassende, quellenkritische Bestandsaufnahme der Thorner mittelalterlichen kirchlichen und profanen Kunstwerke (bildende Kunst, Architektur), soweit sie nach den Zerstörungen und Zerstreuungen des 18. und 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg erhalten werden konnten.

Nach Herkommen, Erziehung, Neigung und späterer beruflichen Entwicklung stand mein Vater in der Tradition jener aus kleinbürgerlichem Handwerkermilieu aufstrebenden Generationen, die die kulturellen und wissenschaftlichen Anregungen und Entdeckungen, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in den literarischen und wissenschaftlich gebildeten Zirkeln in Weimar, Jena, Berlin, Köln und Heidelberg zur Basis der bürgerlichen deutschen Nationalkultur wurden, als Wissenschaft - von der Lokalgeschichte bis zur Archäologie und Kunstgeschichte - vertieften und erweiterten. Die Kultur des deutschen Bürgertums wurde im späteren 19. Jahrhundert auf dem Wege, den ihr Lessing gewiesen hatte, zur Kultur der nationalen Selbstbewußtwerdung. Im Mittelpunkt kultureller Bestrebungen stand die Geschichtswissenschaft; für drei Generationen war sie das Medium, in dem sich für sehr viele Menschen der Prozeß des sozialen Aufstiegs aus der handarbeitenden Kleinbürgerschicht zu geistiger Mündigkeit und Selbständigkeit vollzog. Sie wurde von Männern wie Reinhold Heuer mit einer Hingabe, einem Fleiß und einer Entsagungsbereitschaft getrieben, die zu bewundern die nachgeborenen Generationen Anlaß haben. Geschichte war populär, das Interesse an ihr in breiten Schichten der Bevölkerung groß. Die sie beruflich übten oder als Autoren bereicherten, waren nicht nur Fachleute, Professionelle, sondern häufig Lehrer, Gymnasi[154]alprofessoren oder wie Heuer Theologen, die als Laien zu ihr gefunden hatten, sich im Selbststudium ein entsprechendes Wissen erarbeitet und sich durch eigene Forschungen in der Zunft einen Namen gemacht hatten. Die Namenslisten und Berufsangaben der Mitglieder zahlloser historisch-wissenschaftlicher Vereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeugen davon. In der Gesellschaft waren sie geachtet, trugen in politischen Gremien, Magistraten, Parteien, als Stadträte Verantwortung.

Das geistige und familiäre Milieu aus Rechtschaffenheit, Frömmigkeit, Streb-samkeit und bürgerlicher Tüchtigkeit der Kleinbürger- und Handwerkerfamilien, aus denen viele dieser Historiker kamen, hat Reinhold Heuer sehr anschaulich in dem 1935 erschienenen familiengeschichtlichen Erinnerungsbuch über seine Kindheit und Schulzeit in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts "Fünfhundert Jahre Bürgerleben in der Stadt Thorn, im Spiegel meiner und meiner Frau Vorfahren" geschildert. Das lesenswerte Buch ist heute nur noch in wenigen Exemplaren in öffentlichen Bibliotheken vorhanden. Dem darin enthaltenen Lebensbild will ich hier aus eigener Erinnerung noch einige Notizen über meinen Vater, insbesondere über seine letzten Jahre - gewissermaßen als biographisches Schlußkapitel über das Leben dieses für das Bild Thorns in der Geschichtswissenschaft bedeutenden Mannes - hinzufügen.

Nach dem Studium der Theologie, das er mit einem guten Examen abschloß, trat Reinhold Heuer seine erste Stelle in Freystadt, Kreis Rosenberg/Westpreußen an und heiratete Margarete Gonell, die Tochter des Pfarrers in Katznase/Westpreußen. Die Hochzeit fand am 18. April 1895 in Thorn statt.

Schon bald, es muß etwa um 1900 gewesen sein, erhielt er die Pfarrstelle in Thorn-Mocker. Den Bau des Pfarrhauses und insbesondere den Bau der neugotischen neuen St. Georgenkirche für die ca. 10 000 Mitglieder zählende Gemeinde - konnte er selbst in Zusammenarbeit mit dem Architekten und mit den Künstlern leiten und dabei viele seiner Ideen verwirklichen (1901). Fast ein Jahrhundert hatte die Georgen-Gemeinde keine eigene Kirche besessen, nachdem 1811 der damalige französische Festungskommandant den Abbruch der mittelalterlichen Georgs-Kirche von Thorn-Mocker befohlen hatte, weil das Abbruchmaterial zum raschen Bau der Fortifikation benötigt wurde: ein besonders schmerzlicher Verlust für Thorns mittelalterliche Bausubstanz.

In dem geräumigen Pfarrhaus mit dem prächtigen großen Garten hat Heuer mit seiner Familie viele glückliche Jahre verbracht. Seine Leidenschaft war neben der Kunstgeschichte das Reisen. Die erstere war nicht immer ganz nach dem Geschmack seiner Vorgesetzten. In einem Bericht über eine Kirchenvisitation heißt es mißbilligend: "Seine Predigt gleicht mehr einem kunstgeschichtlichen Kolleg als einer Predigt." Für seine Reisen bereitete er sich stets gründlich vor und suchte sich wenigstens einige wichtige Sätze der betreffenden Landessprache anzueignen. Wenn er in seine Studien vertieft war, gingn wir Kinder gern zu ihm, wenn wir ihn für etwas um Erlaub[155]nis bitten wollten, deren Zusage uns zweifelhaft zu sein schien. Er nickte dann mit dem Kopfe und brummte seine Zustimmung. Die Mutter war dann meistens entsetzt, daß er uns Dinge gestattet hatte, die sonst verpönt waren. Er selbst wußte später von nichts. Wir Kinder sagten dann entschuldigend "Vater war gerade in Arabien ".

Als Thorn 1920 polnisch wurde, mußte Heuer auch die Gemeinden in der Stadt Thorn selbst betreuen, da seine Pfarrer-Kollegen nach Deutschland gingen. Schweren Herzens trennten sich die Eltern von dem dörflichen Mocker und zogen in das Pfarrhaus der Altstädtischen Kirche im Zentrum Thorns. Es muß so um 1922 gewesen sein. Aber auch hier gehörte mitten in der Stadt ein Garten dazu, den wir bald zu einem gärtnerischen Schmuckstück machten. Auch die Wohnung war gut geschnitten, geräumig und verhältnismäßig ruhig. Hier beschäftigte sich Vater eifrig mit der Geschichte der Altstädtischen Kirche und der anderen Thorner Kirchen. Als leidenschaftlich überzeugter Protestant und Deutscher war er gleichwohl liberal und verständnisvoll gegen seine polnischen und katholischen Mitbürger. Ich entsinne mich nicht, daß er jemals ernstlichen Streit mit Angehörigen der anderen Konfession oder Volksgruppe hatte. Er suchte die Versöhnung und den Ausgleich. Zwei Beispiele: Es war den Polen unliebsam aufgefallen, daß an Fest- und Feiertagen, an denen die Häuser und amtlichen Gebäude am Markt reichlich beflaggt waren, die Altstädtische Kirche und das Pfarrhaus ohne Flaggenschmuck blieben. Ein Vertreter des Bürgermeisters sprach deswegen bei ihm vor. Heuer weigerte sich, auf den kirchlich-protestantischen Gebäuden die polnische Staatsfahne zu hissen, zeigte sich aber bereit, die Kirchenfahne auszuhängen. Man schied im besten Einvernehmen. Zweites Beispiel: Bei seinen kunstgeschichtlichen Studien arbeitete er eng zusammen mit dem katholischen Pfarrer Gollnick. Da die protestantischen Pfarrer sich ja gern mit "Herr Bruder" anredeten, nannten wir Kinder diesen geistlichen Herrn "Vaters Stiefbruder".

Durch eine zufällige Bekanntschaft mit Professor Dr. Drost von der Technischen Hochschule Danzig wurde Heuer angeregt, seine Schrift über die altstädtische Kirche in Thorn sowie weitere Studien über andere ostdeutsche Kirchenbauten zu schreiben. Er reichte sie unter dem Titel "Zur Kunstgeschichte und Problematik des evangelischen Kirchenbaus in den abgetretenen Gebieten Westpreußens und Polens, erläutert an der altstädtischen Kirche in Thorn" der Hochschule in Danzig als Dissertationsschrift ein. Am 20. Juni 1933 bestand er das Examen und erhielt die Würde eines "Doktors der technischen Wissenschaften". Es war wohl recht ungewöhnlich, daß ein Pfarrer diese Würde erwarb, und dazu noch im Alter von 65 Jahren.

Ungefähr im Jahre 1933 - das genaue Datum kann ich nicht mehr angeben ließ sich Heuer pensionieren. Die Eltern zogen nach Potsdam, wo sie zusammen mit meinem älteren Bruder in unmittelbarer Nähe der Garnisonkirche eine gute Wohnung bezogen.

Potsdam und Berlin mit den vielen Museen historischen Bauten, kulturellen Einrichtungen und besonders mit den herrlichen Potsdamer Parkanla[156]gen - Heuer war ein leidenschaftlicher Spaziergänger und Wanderer - boten Anregungen in Fülle.

Und dann kam langsam die Zeit, wo ein so erfülltes und erfolgreiches Leben so tragisch enden sollte.

Schon in den dreißiger Jahren begann das Augenleiden meiner Mutter - eine fortschreitende Netzhautablösung -, damals noch nicht heilbar, und führte schließlich zu ihrer völligen Erblindung. Dazu kam während des Krieges infolge eines Sturzes ein Schenkelhalsbruch, der nur unbefriedigend heilte, sodaß meine Mutter stark lahmte. Zunächst schien es so, als ob Potsdam von den Bombernangriffen der alliierten Luftwaffen verschont bleiben würde. Da ich mit meiner Familie in Posen wohnte, wo die Ernährungslage besser als in Berlin war, konnten wir unseren Eltern helfen, auch waren sie häufig und längere Zeit bei uns. Dann kam der Zusammenbruch. Am 20. Januar 1945 mußten wir mit unseren vier Kindern im Alter von 3 - 15 Jahren über Nacht Posen verlassen und nach kurzem Zwischenaufenthalt in Potsdam nach Göttingen weiterziehen. Die "Zonengrenze" trennte uns bald endgültig von unseren Eltern. Und dann kam für Reinhold Heuer die Katastrophe: Mitte April 1945, fast auf den Tag ihrer Goldenen Hochzeit, wurde das Haus der Eltern in Potsdam während eines alliierten Fliegerangriffs durch einen Bombenvolltreffer vernichtet. Die Eltern wurden im Keller verschüttet, jedoch lebend geborgen. Sie wurden dann ohne alle Habe von Notquartier zu Notquartier geschoben, bei völlig unzureichender Ernährung. Im Februar 1946 erhielten sie endlich die Genehmigung, zu uns nach Göttingen zu reisen. Die Fahrt dauerte drei Tage, im Viehwagen und auf Stroh. Ihr geringes Gepäck wurde ihnen dabei gestohlen. Selbst die Schuhe hatte man ihnen im Schlaf von den Füßen gezogen. Das raubte ihnen die letzten Kräfte. Beide kamen sofort in ein Krankenhaus, wo wir sie noch besuchen konnten. Wenige Tage später starben sie, die Mutter am 19.Februar, der Vater am 25. Februar an - wie der Totenschein auswies - "völliger Erschöpfung". Sie ruhen auf dem schönen Göttinger Zentralfriedhof.


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© 2000   Volker J. Krueger, heim@thorn-www.de
letzte Aktualisierung: 29.04.2008