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[113] Vor dem politischen Gewaltakt der Vertreibung war im Osten unseres großen deutschen Vaterlandes am Unterlaufe der Weichsel von Thorn bis zum Danziger Delta ein kerniger, eingewachsener deutscher Bauernschlag beheimatet. Er war im Laufe von mehreren Jahrhunderten harter Pionierarbeit fest im angeschwemmten, fruchtbaren Stromland der Weichselniederung eingewurzelt. Gefahr und Kampf mit den urgewaltigen, oft zerstörenden Kräften des mächtigen östlichen Stromes formten seinen Charakter.
Blutströme aus allen deutschen Stämmen mischten sich im deutschen Menschen der Niederungsdörfer. Wie die Weichsel und das Bild ihres Stromlandes im eingedeichten Unterlaufe, so zeigte sich auch das Bild ihres Deichbauern. In oft langer Geschlechterfolge, vielfach untereinander versippt und miteinander verschwägert, saßen sie auf ihren breit hin gelagerten, stattlichen Gehöften und Gutshöfen. Dem Beschauer, der den hohen, dem Strombett der Weichsel gleichlaufenden Damm entlang wanderte, bot sich ein wahrhaft überwältigendes Bild einer flachen, früchteschweren Ebene, die durch Entwässerungsgräben in quadratische und rechtwinklige Flächen schachbrettartig eingeteilt war. Und auf den fetten Außendeichweiden, die durch den sich ablagernden Schlick der jährlichen Hochwasser immer wieder neu angereichert werden, weideten, so weit der Blick reichte, zahlreiche Herden hochgezüchteter Milchviehrassen und hier und da auch edelgezogene Remonten. Auf der gleichmütig und gelassen zur Ostsee hinströmenden Weichsel schwerbeladene Frachtdampfer, tiefliegende, breitbauchige Getreidekähne, Holztraften. Dieser so segenspendende und friedlich scheinende Strom zeigte sich jedoch zuweilen, insbesondere im Frühjahr, zur Zeit der Schneeschmelze, von unberechenbarer Zerstörungswut. In diesem ewig schönen, fruchtbaren Landstriche meiner Danzig-westpreussischen Heimat konnte ein eigenwüchsiger, starker, kerndeutscher Menschenschlag zur Entfaltung kommen. Aus vielen Überflutungen und wiederholten Deichbrüchen hatten die Niederungsbauern in unverdrossener Arbeit und harter seelischer Widerstandskraft ihren Acker immer wieder neu erworben. Dieser stete Kampf mit der Urgewalt des entfesselten Stromes um den Heimatboden hatte ein ernstes, besinnliches und gläubig-frommes Geschlecht von Deichbauern geschaffen und hatte an ihm geformt. Es hielt am Althergebrachten, redete bis in die letzte Zeit vielerorts noch häufig plattdeutsch untereinander und pflegte eine tiefgegründete Achtung vor fremdem Eigentum. Mit Liebe und Ordnung paarte sich unbedingte Zuverlässigkeit. Es galt noch das Manneswort. Ein gesunder, kräftiger und gut gebauter Menschenschlag; im allgemeinen von übermittelgroßer Gestalt und häufig schwerem Körper. Begabt [114] mit gesundem Menschenverstand, gewandt in Geschäften und in der Wahrnehmung seines Vorteils, erschien der Niederungen oder auch, vornehmlich im Danziger Weichselmündungsgebiet, Werderaner genannt, in seiner Wortkargheit und dabei jedoch scharf beobachtender Zurückhaltung beim ersten Eindruck schwerfällig, um dann durch treffende und sarkastische, oft kernigurwüchsige Bemerkungen zu überraschen. Nicht selten dickköpfig bis zur Überspanntheit; indessen zäh im Verfolgen des einmal gesetzten Zieles. Er war besonders stolz darauf, sich von altersher stets seine Freiheit bewahrt zu haben. Er war ein harter, fleißiger Menschenschlag, der auf seinem reichen Besitztum allen politischen und wirtschaftlichen Wirren und Nöten der Zeiten zu trotzen vermochte. Und man darf dabei nicht außer acht lassen, daß ein Weichselniederungshof (Werderhof) schon von 50 bis 80 ha unter Umständen sehr viel mehr wert war als ein raumgewaltiges Rittergut auf den leichten Böden der westpreußischen Hochflächen. So hatte denn auch eine derart gegründete und gesicherte soziale Lage im letzten Menschenalter selbst bei kleineren Niederungswirten zu einer Verfeinerung der Sitten geführt. Der Pflege des Althergebrachten und oft sehr urwüchsigen Brauchtums wurde dadurch zwar Abbruch getan; doch es wurde bis in die letzte Zeit nie ganz vergessen. In der Erkenntnis, daß größere Flächen sieh lohnender bewirtschaften lassen, hatte der Niederungsbauer seinen Hof bei sich bietender Gelegenheit durch Ankauf von Nachbarhöfen vergrößert. Auf diese Weise waren eine Anzahl recht beachtlich großer und volkswirtschaftlich äußerst wertvoller Gutsbetriebe entstanden. Mit den alten Patrizierfamilien und reichen Handelshäusern in Danzig, Graudenz, Thorn und anderen Weichselstädten bestanden häufig familiäre Bande. Daß in den alteingesessenen Familien der Niederungshöfe ein starkes Selbstbewußtsein erwachsen war, das gelegentlich auch zu Reibungen selbst untereinander Anlaß gegeben hat, muß als natürliche Folgeerscheinung gewertet werden. Bezeichnend hierfür folgender, nicht vereinzelter Vorfall noch aus der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, bevor das Auto als Beförderungsmittel auch in der Niederung die Oberhand gewonnen hatte: Es schien selbst den Älteren schier unerträglich, den Nachbarn an sich vorbeifahren zu lassen, auch wenn er es offensichtlich sehr eilig hatte und die damals noch vielfach bestehende Pflasterchaussee noch so holprig war. Es konnte demnach geschehen, daß die von rassigen Pferden gezogenen gutsherrlichen Kutschwagen im Galopp einander zu überholen suchten. Unter Peitschenwippen und anfeuernden Zurufen der Kutscher und auch der Wageninsassen rasten die edlen Tiere, bald schaumbedeckt, dahin. Wenn nicht eine Wegabzweigung die gewollte Fahrtrichtung des einen war, so wurden am Ende die Pferde zuschanden gefahren. Keiner wollte eben nachgeben, obwohl beide Teile als Pferdeliebhaber bekannt waren und ihre Tiere gewöhnlich mit Sorgfalt und Liebe zu behandeln pflegten. Des weiteren ist verbürgt, daß auf die Äußerung des Besitzers eines über tausend Morgen umfassenden und auch gut geleiteten Höhenbetriebes, er zahle mit RM . . . doch eine sehr hohe Einkommensteuer, ihm vom Besitzer eines Niederungsgutes entgegnet wurde: "Darüber reden Sie noch, Herr ... ? Ich bezahle von meinen mehreren hundert Morgen eine um vieles höhere Summe!" Es wurde darauf Wert gelegt, daß die Söhne der alteingesessenen Niederungs-besitzer bei der Garde dienten, wobei ihnen von zu Hause selbstverständ[115]lich reichliche Geldmittel zur Verfügung standen. Man wollte sich nicht lumpen lassen. Selbst kleine Niederungswirte schickten ihre Kinder auf die höheren Schulen und nicht selten auch auf die Universitäten. Mancher Sohn der Niederung ist so zu hohen Ehren gelangt. Eine breite Gastfreundschaft war überall auf den Niederungshöfen von altersher Sitte. Nach des Tages Last und Mühe war man gern gesellig beisammen. Tüchtig getrunken wurde freilich, und nicht nur bei besonderen Anlässen. Daß der mit seinem Boden verwachsene Niederunger auch ein Heger und Pfleger des jagdbaren Wildes war, lag ihm im allgemeinen im Blut. Besonders das Niederwild, wie Rebhühner, Fasanen, Hasen, fand in den weitläufigen Zuckerrüben-, Ölfrucht- und saftigen Kleeschlägen Schutz und reichliche Äsung; auch wechselte Rehwild aus den Wäldern der Höhe Sommers gerne in die hohen, dichten Weizenfelder der Niederung. Lohnend war der Beschuß von ziehenden Wildenten, die oft in großen Mengen auf die Entwässerungsgräben einfielen. Den Einladungen zu den gewöhnlich von mehreren benachbarten Niederungsdörfern gemeinsam veranstalteten großen Treibjagden wurde gerne Folge geleistet. Gutmütigkeit und Freigebigkeit waren ein starker, liebenswerter Wesenszug im Charakter des Niederungsbauern. Auf seiner im tiefsten Grunde ernsten, religiösen Lebensauffassung fußte seine bewußte Kirchlichkeit und seine vorbildliche soziale Hilfsbereitschaft. Und bis in die letzte Zeit hinein bestand noch mancherorts zwischen Arbeitgeber und bodenständigem Gesinde ein Zusammengehörigkeitsgefühl und Treueverhältnis, bei dem beide Teile gut fuhren. Erheiternd und zugleich kennzeichnend hierfür folgendes Geschehnis, das sich wohl kurz nach dem Ersten Weltkrieg ereignete. Franz, der bereits der vierten Generation einer Kutscherfamilie auf dem alten Hofe entstammte, hatte seinen Herrn während der Jagdzeit fast Tag für Tag zu den oft hohe Ansprüche an körperliche Ausdauer stellenden Treibjagden und nach dem anschließenden Schüsseltreiben mit dabei üblichem kräftigem Umtrunk nach Hause gefahren. In Besorgnis um seinen Herrn, von dessen Ehefrau er wahrscheinlich auch beauftragt war, auf ihn besonders gut achtzugeben, äußerte er bei einer Nachhausefahrt: "Der Herr soll doch nicht so viel mitsupe!" - "Na, wart' mal, Franz, bis nach den Jagden", lautete die Entgegnung des in feuchtfröhlicher Stimmung Befindlichen, "dann sollst du auch einmal den Herrn spielen." Getan, wie gesagt. Nach gutüberstandener Jagdzeit setzte sich der Herr auf den Kutsch-bock und fuhr eigenhändig seinen Getreuen ins Gasthaus der nahen Kreisstadt. Hier konnte er essen und trinken nach Herzenslust, bis es höchste Zeit war, den schwer Bezechten wieder nach Hause zu fahren. Als er, entschuldigt, erst am nächsten Nachmittag zur Arbeit zu erscheinen vermochte, gab er seinem Herrn gegenüber die klassischen Worte von sich: "Die Herrens haben es doch schwer. Ich will lieber weiter kutschieren und nicht supe müsse."
Das kerndeutsche Bauerntum des Weichsellandes hat durch seine Pionierarbeit, Zähigkeit und seine urwüchsige Lebenskraft im Verein mit einem nicht zu brechenden Willen zur Selbsterhaltung und Freiheit einen nicht unbedeutenden Anteil an der geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes gehabt. Inmitten der unverschuldeten Not der Vertreibung steht der aus seiner angestammten Heimat der Weichselniederung vertriebene deutsche Bauer als Bewahrer einer stolzen Überlieferung da. __________________
Geschke, Albert, Dr. phil., Landwirt, * 12.2.1892 in Villisaß Kr. Briesen. Abitur in Danzig. Studium der Philosophie, Geschichte, Volkswirtschaft und Landwirtschaft in Königsberg/Pr. und Danzig. Bewirtschaftete das Familiengut Groß Falkenau Kr. Dirschau. Nach 1945 Landwirt, Sachbearbeiter bei der Landwirtschaftskammer Hannover und Treuhänder zur Seßhaftmachung des vertriebenen Landvolkes. Lebt in Minden. (1974!)
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