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Familienwappen Krüger

Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Worin wir den Sinn des Lebens sehen

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kurzbiographie.

Jeder von uns fünf Geschwistern war mit sich, seinem Beruf, seiner Familie, seinem Überlebenskampf ausgelastet. Der Gesprächsfaden, der unsere Großfamilie verband, wurde immer dünner. Die Erinnerungen an die Doppelhochzeit im Schloß Kranichstein, die uns alle zusammengeführt und unserem "Wir sind wieder wer" sichtbaren und fühlbaren Ausdruck verliehen hatte, waren durch Sorgen und Hektik des grauen Alltags verblaßt. Wir wären in dieser Zeit bereit gewesen, unsere Großfamilie zerfallen zu lassen, wenn meine Mutter nicht in ihrem starken Familiensinn einen hohen Wert gesehen hätte.

Sie war die Klammer, die uns zusammenhielt. Mit einem mir oft lästigen Eigensinn lehnte sie Kontakte zu anderen Nachbarn und Freunden in Hannover ab, ja, selbst zu gleichaltrigen Frauen aus der Heimat. Die einzige Korrespondenz, die sie pflegte, war die mit ihrer Schwester Else Günther, die in Bayern lebte, und mit ihren beiden Schwiegertöchtern in [388] Goddelau. Wir fragten uns, woher denn Omi, wie wir sie nannten, die Kraft nahm, ein offenes Ohr für unsere Sorgen, Krisen, Probleme zu haben und dort auszuhelfen, wo sie gebraucht wurde. Bei uns entlastete sie Elisabeth bei der Betreuung der Kinder, nach Goddelau und nach Stubben fuhr sie, wenn sie das Gefühl hatte, einmal nach dem Rechten sehen zu müssen oder um einen Geburtstag mit zu feiern. Wenn sie nach Hannover arg strapaziert zurückkam und wir sie nach den vorgefundenen Problemen ausfragten, gab sie sich wortkarg. Fehler ihrer Töchter und Schwiegertöchter bei der Erziehung von deren Kindern korrigierte sie an Ort und Stelle. Wenn sich ihre Söhne in ihren Ehen falsch verhielten, sagte sie uns unter vier Augen ihre Meinung. Über die heiklen Dinge, die Fehler, die Schwächen, die sie vorgefunden hatte, sprach sie nicht. Sie übermittelte Ereignisse, Informationen und Meinungen von Familie zu Familie, so wie es eine interne Zeitung tun würde, in der aber die Klatschspalte fehlte. Wenn ich von ihr Einzelheiten hören wollte, die mich ganz besonders interessierten, wenn sie außerhalb meiner engen Moral lagen, sagte sie: "Darüber möchte ich nicht sprechen. Jeder hat seine Probleme, der eine größere, und der andere kleinere. Ich komme da auch manchmal nicht mehr mit."

Bei Omi liefen die Fäden der Großfamilie zusammen. Ihr gegenüber hatten wir keine Geheimnisse, auch ihre Schwiegertöchter Ilse und Ursula in Goddelau nicht. Ein Jahr nach der Hochzeit von Karin schrieb ihre Mutter einen verzweifelten Brief.

Liebe Omi, unsere Karin hat ebenso wie ich im siebten Monat ihrer Schwangerschaft eine Eklamsie bekommen. Das Kindchen lebte nur sechs Stunden. Karin schwebte in höchster Lebensgefahr. Der Chefarzt sagte uns, es hätte sich nur noch um Stunden gehandelt, dann wäre Karin nicht mehr zu helfen gewesen.

Heute haben wir den kleinen Jörg beerdigt. Karin weiß es noch nicht. Tilo bekam es nicht übers Herz, es ihr zu sagen. Als Karin ihren schwersten Tag hatte, bestand Dorle das Abi[389]tur mit einer zwei ... So sind Freud und Leid dicht beieinander.

Meine Schwägerin Ursula hatte mit ihren drei Söhnen Probleme ganz anderer Art. Sie schrieb lange, lebhafte, anschauliche Briefe. Mir war ihr Stil noch vom Gymnasium in Thorn her bekannt. Wenn ich mir für eine Klassenarbeit beispielsweise zum Thema "Sieh auf zu den Sternen, gib acht auf die Gassen" oder so ähnlich gerade die Gliederung und eine Seite abgequält hatte, klappte Ursula demonstrativ ihr Heft zu und gab es ab. Sie hatte schon zehn Seiten geschrieben, bummelte auf der Breiten Straße oder lungerte in der Eisdiele, manchmal auch in der Konditorei Dorsch herum, während ich noch mit dem zweiten Teil des Aufsatzes rang. Bei meiner idealistischen Veranlagung und meinem Hang zur Theorie stolperte ich regelmäßig über die Wirklichkeit. Mir wollte zu den Gassen nichts Rechtes einfallen. Ursulas Briefe strotzten von Sensationen, die meiner Mutter oft die Nachtruhe raubten.

11. Mai 1970

Liebe Omi, heute am Muttertag denken wir in Liebe an Dich, und es ist mir ein Bedürfnis, es Dir einmal zu sagen, daß Du nicht nur eine wunderbare Mutti bist, sondern auch eine fabelhafte Schwiegermutter. Ich möchte Dir von Herzen danken, daß Du soviel Verständnis und vor allem Geduld mit mir gehabt hast. Ich wünsche nur, ich würde einmal genauso zu meinen Schwiegertöchtern sein.

Ich schreibe mit der Maschine, dann kannst Du es besser lesen, und außerdem liegt unser Äffchen ruhig auf meinem Schoß, und ich kann tippen. Ja, wir haben einen neuen Hausgenossen. Volker hat ihn mitgebracht. Es ist ein ganz süßes Tierchen, wie ein kleines Kind.

Nach langen Ergüssen über das reizende Wesen des Äffchens berichtete Ursula von Volkers Afrikareisen. Ich hatte längere Zeit geglaubt, mein Neffe würde Veranstalter von Abenteuerreisen werden. Dann setzt Ursula ihren Brief fort: Volker ist nun endlich zu Hause. Sieben Wochen war er in [390] Abidjan an der Elfenbeinküste. Als sie von Mali dorthin fuhren, ging ihnen ein Omnibus kaputt. Er mußte abgeschleppt werden, wodurch auch der zweite beschädigt wurde. Sie konnten aber beide noch reparieren. Der größere Teil der Gruppe wollte nicht mehr durch die Sahara, obwohl die Strapazen gar nicht so groß gewesen wären.

Volker blieb nun nichts anderes übrig, als das vorhandene Geld zu verteilen. Dann löste sich die Gruppe auf.

Unser Ältester und ein Boy aus Heppenheim blieben in Abidjan und versuchten, die Busse zu verkaufen. Es waren auch sehr viele Interessenten da. Sie sagten, sie brächten morgen das Geld, ließen sich dann aber nicht mehr sehen. Volker schrieb, das Wort "morgen" hasse er am meisten. Man könne sich auf nichts verlassen. Blöd sei, daß er für alle drei Busse Zoll zahlen muß, wenn sie im Land bleiben. Die Elfenbeinküstler seien ungeheuer faul. Alle höheren Posten seien von eingewanderten Schwarzen besetzt, und die hassen die Einheimischen wie die Pest. Es kommen auch laufend Morde vor.

Endlich am letzten Dienstag konnte Volker die drei Busse los werden, nachdem ihm Franzosen erst einige Ersatzreifen geklaut hatten. In einem Haus, in dem er immer Wasser holte, fragte ihn die Frau, ob er zeichnen könne. Volker bejahte, und da gab sie ihm den Auftrag, Bilder zu vergrößern und sie auf Glasfenster für Hotels und Kinos zu malen. So verdiente er in acht Tagen umgerechnet eintausenddreihundert DM. Volker war sehr glücklich darüber und konnte nun nach Hause fliegen. Er bekommt noch immer Briefe von Studenten, die anfragen, wann er die nächste Fahrt machen würde, aber er sagt ab, denn er hat sich nun vorgenommen, richtig zu studieren.

Dietger kam gestern wegen des Muttertages heim. Er hat zwar tolle Angebote von der Konkurrenz, aber er will der IOS treu bleiben und abwarten. Er sagt, wenn er abwandern würde, dann könne er nie mehr zur IOS zurück. Wir sind sehr gespannt, wie die Sache weiterlaufen wird. Ich würde mich ja freuen, wenn er als Ingenieur in unserer Nähe arbeiten wür[391]de, aber er meinte, wenn man erst ins Geldgeschäft reingerochen habe, könne man nicht mehr woanders arbeiten.

Im Herbst verkaufte Hans-Joachim so fabelhaft viele Giroheuer und Mähmaschinen, so daß wir zuversichtlich in die Zukunft sahen. Aber nun hat die französische Firma sich übernommen und kann die Aufträge nicht ausführen. Die Kunden sind sehr verärgert, und Dein Sohn ist ganz daneben. Letztens blutete ihm sehr die Nase. Donnerstag bekam er nachts einen Herzanfall. Er ist aber nicht zu bewegen, zum Arzt zu gehen. Dabei ist er so schwach, und um die Augen rum sieht er krank aus. Ich mache mir große Sorgen.

Meine beiden Schwestern litten darunter, ihre Kinder ohne Vater erziehen zu müssen. Ich fragte Edith eines Tages, ob der Tod ihres Mannes, des kleinen Siegfried und dann später der Verlust von Heimat und Besitz zu einem Bruch im Sinn ihres Lebens geführt habe. Darüber nachzudenken habe sie keine Zeit gehabt, antwortete sie, nachdem sie einen Moment überlegt hatte. Die Kirche sei ihr in ihren seelischen Nöten keine Hilfe gewesen.

"Es war, ja das war es, es war, jetzt habe ich meine Gedanken geordnet, ein verbissener Kampf um das Überleben, den ich als Frau unter erschwerten Bedingungen führen mußte. Mir ging es so wie tausenden, wahrscheinlich sogar Millionen Kriegerwitwen, die sich in einer fremden Umwelt zurechtfinden und durchsetzen mußten. Eigentlich möchte ich nur mir Rechenschaft darüber ablegen. Zugang zu Gott fand ich im Gebet. Sonst interessiert das doch niemanden.

Nach der Währungsreform gingen die Aufträge für mein Fuhrgeschäft, das ich von Dir übernommen hatte, sehr zurück. Die drei Pferde verkaufte ich an Ilse Dahlweid. Zwei von ihnen gehörten Dir. Du konntest mit dem Erlös Dein Studium in Göttingen fortsetzen. Dann baute ich auf dem gesamten Grundstück Erdbeeren an. In einem Jahr erntete ich zwanzig Zentner. Sie wurden morgens früh ab drei Uhr gepflückt. Die Kinder mußten mithelfen, die Früchte in Körben zum Bahnhof zu tragen. Um sechs Uhr fuhr der Zug nach Bremerhaven ab. Ich [392] brachte die Erdbeeren zu den Konditoreien. Auf den Markt ging ich nicht. Nein, das tat ich nicht, denn dazu war ich zu fein.

Später baute ich Blumen an und eröffnete das Geschäft.

Nein, ich kam gar nicht dazu, über den Sinn meines Lebens nachzudenken. Wenn ich mir abends einmal ein Buch vornahm und eine Viertelseite gelesen hatte, dann wanderten die Augen über die nächsten Zeilen. Ihren Sinn nahm ich nicht mehr auf. Meine Gedanken waren schon beim nächsten Morgen, bei den Arbeiten, die anstehen, und bei der Frage, welche ich zuerst in Angriff nehmen muß.

Da ich tagsüber die Vaterrolle bei meinen Töchtern und bei Rüdiger und Horst spielen mußte, hatte ich oft Meinungsverschiedenheiten mit Omi. Ich fühlte mich verpflichtet, die vier Kinder zu erziehen, und mußte zu ihnen gemäß ihrem Temperament, ihren Stärken und Schwächen einmal streng, das andere Mal liebevoll sein. Rüdiger mußte seiner Veranlagung gemäß in dem Selbstbewußtsein gestärkt und Horst eher etwas geduckt werden. Da gab es auch manchmal mit Ursula heftige Auseinandersetzungen. Ich hatte den ständigen Kontakt mit ihren Söhnen. Wenn sie spät abends vom Dienst zurückkam, wollte sie die Autorität ihrer Kinder sein. Oft war sie eifersüchtig, wenn sich ihre Söhne mehr zu mir hingezogen fühlten. Horst verstand es sehr gut, sich lieb Kind bei seiner Mutter zu machen. Dann stand ich allein da mit meinen Erziehungskünsten.

Omi ließ sich leicht durch Liebenswürdigkeit und sicheres Auftreten von Männern beeindrucken."

Wäre dieser Mangel in ihrer Menschenkenntnis auch so offen zutage getreten, wenn sie in Altthorn geblieben wäre? unterbrach ich meine Schwester.

"Gewiß nicht, denn dann wäre sie eine oberflächliche Frau.

Du mußt berücksichtigen, unter welchen Bedingungen wir hier lebten." Der Unterton dessen, was sie sagte, wurde ironisch. "Imponiert haben mir schnieke Männer genauso. Omi sprach es aus. Ich behielt es für mich. Wenn sich mir gut angezogene Männer näherten, die sicher auftraten, womöglich einen Mer[393]cedes fuhren, war ich genauso wie Omi beeindruckt. Einen Mann zum Heiraten hätte ich allemal gefunden, aber keinen Vater für meine Kinder. Sie sollten nach meiner Vorstellung zu einem gesellschaftlichen Anspruch erzogen werden, wie wir es aus unserer Heimat kannten. Da wollte ich keine Abstriche machen. So suchte ich Gesprächspartner und verzichtete auf eine zweite Ehe.

Für voll nahm ich einen alten Bauern aus Bokel. Der hatte Format, mit dem konnte ich mich unterhalten, der freute sich nicht darüber, daß wir stolzen Herrenmenschen aus dem Osten jetzt am Boden lagen. Er war verständnisvoll und hilfsbereit. Das war aber eine Ausnahme in der mich umgebenden Männerwelt.

Was Du hier als Frau tun mußt, um anerkannt zu werden, ist: frühmorgens aus den Federn, Stiefel anziehen, arbeiten, arbeiten. Da kannst Du Gift darauf nehmen. Noch heute, nach sovielen Jahren, verbeugen sich die kleinen Bauern, Handwerker und Eisenbahner vor mir, die hier in Bokel und Stubben den Ton angeben. Das sind die Kunden meines Blumengeschäftes. Noch vor wenigen Tagen kam einer von ihnen in meinen Laden und sagte: 'Frau Feldt, ich habe vor kurzem mit meiner Frau über Sie gesprochen. Wie Sie damals mit den Pferden gearbeitet haben, bei Wind und Wetter, beim Torfstechen. Wir haben Sie bewundert.' Man wählte mich in den Gemeinderat und in das Amt einer Schöffin."

Bei einem der Gerichtstermine, die Edith wahrzunehmen hatte, wurde behauptet, die Kinder von Flüchtlingswitwen würden verwahrlosen. Aus Familien von allein erziehenden Müttern käme der Nachwuchs für die zunehmende Jugendkriminalität. Meine Schwester wollte dieser Frage auf den Grund gehen und bat deshalb den zuständigen Staatsanwalt zu prüfen, ob es eine Statistik für diese Vorurteile gebe. "Beim nächsten Gerichtstermin sagte er mir, daß Kinder von allein erziehenden Müttern unter einem Prozent kriminell seien, also weit unter dem allgemeinen Durchschnitt lägen."

Sybille ging mit der Mittleren Reife vom Gymnasium ab. Sie wollte im Einvernehmen mit meiner Schwester Textilkauffrau [394] werden. Einer Lehre in einem Geschäft für Damenoberbekleidung in Bremen sollte sich die Textilfachschule in Krefeld anschließen. Da sie die Aufnahmeprüfung dort nicht bestand, besuchte sie ein Jahr lang die Handelsschule in Bremerhaven und arbeitete anschließend in verschiedenen Kaufhäusern, mit dem Ausbildungsziel einer Substitutin.

"Ich sagte", bemerkte Edith zu diesem Lebensabschnitt ihrer Tochter, "der Mensch denkt, und Gott lenkt." Meine Schwester wollte, daß Sybille Deutschland kennenlernt, und ebnete ihr alle Wege, um in einem Kaufhaus in Karlsruhe anzukommen. Sie machte ihr später den Vorwurf, sie hätte ihre Tochter aus dem Nest gestoßen. Trotzdem war dieses Leben weit weg von Zuhause für Sybilles Entwicklung zuträglich. Sie heiratete den Marinesoldaten Hartmut Roth aus Freiburg im Breisgau. Da der gebürtige Badener keine qualifizierte Berufsausbildung hatte, widersetzte sich meine Schwester anfangs dieser Verbindung. Hartmut ließ sich aber nicht beeinflussen, ergriff den Beruf eines Kraftfahrzeugmechanikers, arbeitete viele Jahre nach erfolgreichem Abschluß der Lehre als Geselle und machte schließlich die Meisterprüfung. Sybille half Edith in dieser Zeit im Blumengeschäft, das sie dann später übernahm, nachdem sie auf dem Grundstück ihrer Mutter zusammen mit ihrem Mann ein Haus gebaut hatte. Sie führt seitdem das Blumenhaus Roth in Stubben selbständig. Edith läßt es sich nicht nehmen, in der Kranzbinderei und im Geschäft tatkräftig zu helfen, wenn besonders große Aufträge vorliegen oder Kundschaft bedient werden muß. Renate war von Kind an eigenwillig und beharrlich beim Durchsetzen ihrer Ziele. Sie machte das Abitur. Meine Schwester mußte für ihre beiden Töchter, solange sie im Gymnasium waren, Schulgeld bezahlen, da Bremerhaven nicht wie Stubben in Niedersachsen liegt. Nach dem Abitur besuchte Renate die Sprachenschule in Bremerhaven. Dabei erlernte sie Stenographie und Geschäftskorrespondenz in englisch und französisch. Danach begann sie bei der Im- und Exportfirma Pahmeyer GmbH & Co. KG in Bremen eine Berufstätigkeit als Fremdsprachenkorrespondentin. Von der Chefsekretärin stieg sie bald zu [395] einer selbständigen Stellung einer Sachbearbeiterin auf. Sie heiratete Wolf-Dieter Christ, einen hessischen Architekten aus Goddelau. Zusammen bauten sie ein Haus, nur einen Katzensprung von Ediths Grundstück entfernt.

Wolf-Dieter arbeitete lange mit mehreren Partnern als selbständiger Architekt in Bremen. Seit dem Ölboom lockten ihn Großaufträge in Saudi-Arabien. Die Exportgeschäfte führten Renate häufig ins Ausland. Sie hatte enge Kontakte zur Familie von Obote, des Präsidenten von Uganda.

Ursula war Mutter und Vater für ihre beiden Söhne in eins. Rüdiger sollte unbedingt das Abitur machen. Da er die Aufnahmeprüfung in der Übergangssehule in Osterholz-Scharmbeck nicht bestanden hatte, schickte sie ihn zum Privatgymnasium in Hagen. Hier blieb er bis zur Mittleren Reife. Ursula ließ nicht locker. Sie war der Meinung, daß die Oberstufe für den Reifungsprozeß ihres Sohnes wichtig sei, und schickte ihn deshalb nach Bremerhaven in das Gymnasium, das er wegen seiner einseitigen mathematisch-technischen Begabung mit der elften Klasse abschloß. Danach machte Rüdiger eine Lehre bei der AEG und studierte Elektrotechnik am Technikum in Bremen. In diesem Beruf ist er seit seinem Ingenieurexamen bei der AEG tätig. Rüdiger heiratete die Bokelerin Doris Beger und baute sich mit ihr in Stubben ein Haus.

Sein Bruder Horst beendete die Realschule in Osterholz-Scharmbeck mit der Mittleren Reife, machte eine Maurerlehre und war anschließend Bundeswehrsoldat. Dann studierte er am Technikum in Bremen Tiefbau. Er entschied sich zu diesem Fach, weil damals schon zu erkennen war, daß die Konjunktur im Hochbau in absehbarer Zeit zurückgehen würde. Als examinierter Ingenieur trat er eine Stelle bei der Bremer Lagerhausgesellschaft an, die er heute noch innehat. Horst heiratete Inge Heinz, baute mit ihr ein Haus und wohnt seitdem in Axstedt, einem Dorf, das fünfzehn Autominuten von Stubben entfernt ist.

Die Ausbildung ihrer vier Kinder belastete meine beiden Schwestern sehr stark, denn sie mußten das Fahrgeld nach Bremen oder Bremerhaven und das Schulgeld bezahlen. Ursula [396] hatte ihr regelmäßiges Gehalt von der Firma Neynhaber, die ihr einziger Arbeitgeber geblieben war. Für Edith war dies eine besonders harte Zeit, die ihr übermenschliche körperliche und seelische Kräfte abverlangte. Sie hatte unerschöpfliche Reserven, wie es mir schien, und verausgabte sie in bewundernswerter Weise.

In den Gesprächen, die ich mit meinen vier Geschwistern führte, tauchte die Sinnfrage immer häufiger auf. Werner und ich wurden in den Vorstand unserer Evangelischen Kirchengemeinden gewählt. Er in Goddelau, ich in Hannover-Bothfeld. Werner war sogar über viele Jahre der Vorsitzende des Gemeinderates in Goddelau. Er kämpfte ebenso wie ich gegen den Mißbrauch unserer Kirche durch die Politik. Jetzt waren es nicht wie im Dritten Reich die deutschen Christen, sondern die neue Linke, die zum Marsch durch die Institutionen angetreten war. Die linken Pastoren behaupteten, das Beste am christlichen Glauben werde durch den Sozialismus verwirklicht. Wir Brüder waren der Meinung, daß Kommunismus und linker Sozialismus mit dem Christentum unvereinbar sind. Die revolutionäre Linke will ihre Ziele, so dachten wir beide übereinstimmend, mit Klassenkampf und nach der Eroberung des Staates mit Gewalt durchsetzen. Das Christentum will dagegen mit den persönlichen Impulsen Liebe, Glaube und Hoffnung das Heil der Welt erreichen. Wir beiden Brüder spürten diesen Widerspruch, konnten aber ebenso wie viele Laien mit uns dem ideologischen Angriff der politischen Linken nicht mit stichhaltigen Argumenten begegnen.

Werner entrüstete sich bei einem Gespräch, das ich mit ihm führte, noch nachträglich über eine Predigt, die in der Goddelauer Kirche anläßlich eines Volkstrauertages gehalten worden war. Der Pastor habe erklärt, unsere Toten der beiden Weltkriege, also auch unser Vater, Herbert, Joachim, Onkel Gerhard, um nur diese Namen zu nennen, seien sinnlose Opfer gewesen. Hat er das wirklich von der Kanzel herunter verkündet? fragte ich Werner.

"Ja", sagte mein Bruder, "er hat noch viel mehr gesagt. Ich [397] kann mich nicht an alle Einzelheiten der Predigt erinnern. Es war eine politische Rede, die er mit einem Zitat von Bertold Brecht einleitete. Meines Wissens war dieser Dichter, der sich damals in der DDR aufhielt, kein Christ und auch kein Demokrat. Dann folgte in der Predigt ein Rundumschlag gegen das deutsche Volk, indem er die Kollektivschuld aus der Mottenkiste hervorholte, gegen Reichsbahn, Siemens, IG-Farben, weil diese Firmen die Zwangsarbeiter solange ausgebeutet haben, bis sie lebendige Leichname waren, gegen die katholische Kirche, weil sie die Atombewaffnung nicht für unsittlich erklärt habe, gegen Franz Joseph Strauß natürlich und die evangelische Kirche, weil sie für die Aufstellung der Bundeswehr waren."

Hat denn der Pastor niemanden geschont?

"Ich erinnere mich, daß er den Terroristen Holger Meins mit dem Brecht-Zitat in Verbindung gebracht hatte. Es lautete so ähnlich wie, unserem Staat sei nicht verboten, Menschen das Brot zu entziehen, in schlechte Wohnungen zu stecken, in den Krieg zu führen und in den Selbstmord zu treiben. Der Pastor empfahl der Gemeinde, nicht zu denken, daß Holger Meins durch seinen Hungerstreik das Risiko des Todes leichtfertig eingegangen sei. Der Pastor brachte uns zur linken, zur Brecht'schen Raison, indem er uns mit Nachdruck verpflichtete, über die Ursachen des Todes von Holger Meins nachzudenken. Ich habe das Manuskript der Predigt irgendwo in den Akten. Wenn Du es haben willst, kann ich es heraussuchen und Dir schicken."

Ja, mache das bitte, sagte ich.

"Ich bin", fügte Werner hinzu, "aus unserer Kirche nicht ausgetreten. Wir sind später in Darmstadt und in Wolfskehlen zum Gottesdienst gegangen. Dort fanden wir, was wir suchten, auch Antworten auf den Sinn unseres Lebens. Am Abendmahl und an den Sakramenten halten wir fest. Mit der bewußten Übertragung der Lehren der evangelischen Predigt in den Alltag haben wir große Schwierigkeiten. Für mich und Ilse ist das Engagement in unserem Betrieb immer noch der sinnvollste Einsatz unserer Kräfte."

[398] Im Jahre siebenundsechzig machte unser ältester Sohn Matthias das Abitur. Unsere vier Kinder schrieben in der von ihnen verfaßten Familienchronik, er habe die Leibnizschule in Hannover recht gut beendet. Rückblickend fahren sie fort: "Doch Andreas und Anette bereiteten den Eltern oft Kopfschmerzen. Manchmal war unsere Versetzung gefährdet, und das Klassenziel wurde nur durch etwas mehr Arbeit, aber hauptsächlich durch Mutters Charme erreicht. Am schlimmsten litt Vater unter unseren schlechten Leistungen, der einst davon überzeugt war, daß für seine Kinder das Abitur keine Hürde sei. Doch im Laufe der Zeit gewöhnte er sich daran und änderte seine Erziehungsmethoden.

Während Andreas noch eine Ohrfeige für eine fünf im Zeugnis bekam, wurde Anette nur noch ausgeschimpft, was bei Christian auch wegfiel. Ihm wurde nur noch ins Gewissen geredet. Inzwischen haben Andreas und Anette das Abitur auch gemacht, und den Eltern bleibt die Hoffnung, daß der Jüngste es auch schaffen wird."

Im Herbst des gleichen Jahres begann Matthias sein Medizinstudium. Er hatte sich schon in seinem vierzehnten Lebensjahr entschlossen, Arzt zu werden. Die finanziellen Belastungen hielten sich im Rahmen, da er von unserem Hause aus die neu gegründete Medizinische Hochschule Hannover erreichen konnte. Matthias beklagte sich vom dritten Semester an unüberhörbar darüber, daß er keinen ruhigen Platz zum Arbeiten habe. Christian mache Krach, Andreas und Anette seien auch nicht sehr rücksichtsvoll.

"So geht das nicht mehr weiter", sagte er eines Tages, "ich muß eine Studentenbude für mich alleine haben." Wir überlegten im Familienkreis hin und her, machten Anbaupläne für unser Haus, verwarfen sie wieder und informierten uns bei der Hannoverschen Messe über das Angebot an Blockhäusern. Sehr bald entschlossen wir uns, ein winterfestes Gartenhaus zu kaufen. In gemeinsamer Arbeit schachteten wir den Erdboden für die Fundamente aus, gossen Beton nach den vorgeschriebenen Maßen der Herstellerfirma im Solling und waren froh, die Vorbereitungen abgeschlossen zu haben, als ein [399] riesiger Lastkraftwagen mit den fertigen Bauteilen anrollte. In einem Tag war das Blockhaus schlüsselfertig aufgestellt, in das wir später eine Gasheizung hineinlegen ließen. Matthias und später Andreas bewohnten es fast während ihres ganzen Studiums. Die Investition hatte sich gut verzinst, wenn man die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten, die damals großzügig von Vater Staat gewährt wurden, berücksichtigt.

Unsere vier Kinder sollten das Abitur machen. Eine Diskussion über die Frage, früher vom Gymnasium abzugehen, erstickten wir stets im Keime. Wir Eltern waren der Meinung, daß sie danach selbständig entscheiden müssen, welchen Beruf sie wählen und ob sie sich in ihm durch eine akademische Ausbildung qualifizieren wollen. Nach dem Hausbau investierten wir soviel, wie notwendig war, in unsere Kinder. Elisabeth und ich sahen darin über viele Jahre den Sinn unseres Lebens. Hierin waren wir stets einer Meinung.


 
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© 2000   Volker J. Krueger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004