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Wappen der Familie Krüger aus Thorn

Horst Ernst Krüger:


Die Geschichte einer ganz normalen
Familie aus Altthorn in Westpreussen


kommentiert und um Quellen ergänzt von Volker Joachim Krüger


Diese Seite ist ein Dokument mit einem Kapitel Text

Der unbekannte Leutnant

 

Die Zahl in blauer eckiger Klammer [23] bezeichnet in diesem Dokument immer den jeweiligen Seitenanfang in der Originalausgabe, die dem Herausgeber vorliegt.

Hinter dem eröffnen sich genealogische Zusammenhänge in Bezug auf die betreffende Person.

Falls Sie sich den Originaltext, um den es an der so bezeichneten Stelle geht, ansehen wollen, so werden Sie hier fündig.

Mit diesem Zeichen weist der Herausgeber dieses Dokuments auf Bemerkenswertes hin und

mit diesem Zeichen macht er auf Fragen aufmerksam, die sich ihm zu dem jeweiligen Text gestellt haben.

Hier erwartet Sie ein Schwarz-Weiss-Foto und hier eine solches in Farbe.

Und falls Sie mehr über die soKurzbiographie gekennzeichnete Person erfahren wollen, finden Sie hier eine Kuzbiographie.


Mein Vater erzählte uns Kindern wenig vom Krieg und seinen Erlebnissen. Wenn ich nur auf diese Quelle angewiesen wäre, so könnte ich nicht viel berichten. Einem glücklichen Zufall verdanke ich es, daß in den von meiner Schwester Edith geretteten Briefen und Dokumenten sich auch ein Artikel aus der Hagener Zeitung von August Bartz aus dem Jahre 1934 befand. Bartz war der Stellvertreter meines Vaters bei einer Spezialeinheit der Deutschen Artillerie. Ich folge seinem Gedankengang sinngemäß, nicht wörtlich. Man liest und hört mit vol[61]lem Recht viel vom "unbekannten Soldaten", ich will, schreibt Bartz, heute einmal vom "unbekannten Leutnant" sprechen. Es ist Joachim Krüger , und Führer des Lichtmeßtrupps 83. Ich könnte von diesem Manne ein ganzes Buch schreiben, das immer wieder zeigen würde, wie er der echte und rechte Führer war, nicht weil er die Achselstücke trug, sondern weil er sie verdient hatte wie kaum ein anderer. Er war der geborene Offizier im wahrsten Sinne des Wortes, wenn als Offizier jemand bezeichnet wird, der eine Verpflichtung gegen die Allgemeinheit, gegen Volk und Vaterland hat. So vollzog er seinen Dienst Tag und Nacht, ohne zum Schlafen zu kommen. Bei Tage Schießen und Schießleitung überwachen, die dringendsten wirtschaftlichen Angelegenheiten erledigen. Ihm unterstanden einhundertzwanzig Menschen und ich weiß nicht mehr wieviele Pferde. Sie mußten allesamt verpflegt, gefüttert und untergebracht werden. Dazu mußte er fremden Offizieren über die wichtigsten artilleristischen Neuerungen Vortrag halten. Nachts war es seine Aufgabe, die Erkundung feindlicher Batterien zu leiten, den Vorgesetzten jederzeit zur Auskunft zur Verfügung zu stehen, mindestens sechs Dinge zur selben Zeit tun, Zehnerlei in einem Atemzug anordnen, klären, befehlen, regeln. Wenn schon einige Stunden Schlaf gestohlen wurden, dann mit dem Telefonhörer am Ohr.

Er ist ein Pflicht- und Arbeitsmensch durch und durch. Ich habe es ihm neulich auch gesagt und ihn darauf hingewiesen, daß er nicht so oft nach vorn gehen soll, wohin Jüngere gehören, denn er ist keiner von den Kräftigsten, und der Weg nach vorn ist etwas für Nerven und Muskeln. Aber er sah mich mit seinem stillen, fast versonnenen Lächeln an und sagte: "Unter unseren Artilleristen sind welche, die gar nicht hierher gehören, soll ich mich vor denen schämen?" Und dann nickte er mir zu und ging weiter an seine Arbeit. Selbstverständlich ist es, daß ein solcher Mann den Einsatz aller Kräfte auch von denen fordert, die etwas leisten können. Drückebergerei ließ er auf keinen Fall gelten. Nicht Paradesoldaten wollte er um sich sehen, sondern Soldaten [62] der Tat, wie er selber einer war. Kein einziges Mal weiß ich, daß er den ihm obliegenden Teil seiner Pflicht einem anderen überlassen hätte, selbst wenn es wieder einmal galt, im Feuerbereich trotz Beschuß mit ruhiger Hand das Scherenfernrohr einzustellen oder schwierige Berechnungen zu machen. Oft sah er abgespannt aus, aber nie gab er nach. Immer stellte er sich und all seine Kraft unter Hochspannung, um das Menschenmögliche zu leisten. Aus Ehrgeiz? Nein, um der Sache willen, wenn man Deutschland als eine Sache bezeichnen kann. Er stellte jeden Mann an den Platz, an dem er das Möglichste leisten kann. Er nahm Rücksicht, wo immer ein Soldatenführer Rücksicht zu nehmen verantworten kann. Er wußte auch um die menschlichen Eigenheiten des einzelnen oft viel besser Bescheid, als der Betreffende ahnte. Er hatte auch Zeit für jeden seiner Soldaten. Da war dieser kleine polnische Kanonier mit dem unaussprechlichen Namen, achtzehn Jahre alt. Dessen Mutter fragte durch den Lehrer ihres Ortes an, was mit ihrem Jungen geschehen sei. Er habe schon seit Wochen nicht mehr geschrieben. Joachim Krüger ließ den Kanonier kommen und fragte ihn, warum er seiner Mutter nicht schreibe. Er wisse nicht, was er groß schreiben solle, war die Antwort des Jungen, der in Wirklichkeit zu faul und zu gleichgültig war. Krüger ließ ihn sich hinsetzen, gab ihm Papier, Bleistift und Umschlag, und der Junge mußte schreiben. Von da an mußte er sich alle acht Tage melden und unter Aufsicht seines Leutnants an die Mutter einen Brief schreiben.

Ein anderer Kanonier, ein Waisenkind, wollte nicht in Urlaub fahren. "Ja, gibt es denn so etwas?", staunte Leutnant Krüger. Der Soldat erklärte ihm: "Ich habe weder Vater noch Mutter, auch sonst außer einer Schwester keine Verwandten. Die Schwester hat ihren Mann im Felde und sitzt mit drei Kindern daheim. Soll ich ihr zur Last fallen?" Was tat der Leutnant? Er schickte den Soldaten zu sich nach Hause, wo er einen großen Hof hatte, und da verlebte der Mann mehr als einen Urlaub.

Überall hatte er seine Augen. Sein praktischer Verstand nahm [63] auf, was anderen entgangen wäre. Und was viele hochstudierte Offiziere nie begriffen, das erfaßte sein praktischer Geist gleich klar und rasch. Zwei Zimmerleute sollten für das Lager eine Baracke bauen. Sie hatten sich wohl vorgenommen, möglichst lange an dieser Arbeit festzuhalten, jedenfalls zimmerten sie lustig darauf los, bis Joachim Krüger ihnen eine Weile zusah, dann dem einen das Werkzeug aus der Hand nahm und ihm zeigte, wie ein Fachmann diese Arbeit tun müsse.

Als ich nach der Rückkehr in die Heimat meinem Vorgesetzten schriftlich von der Rückkehr des Trupps berichtete und dabei allerlei niedergeschlagene Gedanken und Gefühle äußerte, da antwortete er mir: "Auch Sie tragen sich mit der Frage: Für wen? Mein lieber Herr Bartz, für uns, damit wir vor unserem Gewissen rein und frei dastehen. Wir können und wollen mit uns zufrieden sein, und dies lasse ich mir von niemandem nehmen. Wir, mein Trupp und ich, wir haben getan, was in Menschenkräften steht." Überheblichkeit? Nein, berechtigter Stolz des echten Offiziers. Joachim Krüger wohnt heute wie vordem auf seinem Grund und Boden. Aber die Grenzen sind andere als früher. Er gehört heute zu Polen. Ich neide ihnen diesen Mann. Wer ihn so kennengelernt hat wie ich, der weiß warum. Aber für die Allgemeinheit ist er einer von den vielen unbekannten Leutnants des Weltkrieges, die ihre Pflicht eisern erfüllten, als Mann, als Soldat, ohne Anspruch auf Lohn, Dank und Ehren. Soweit August Bartz.


 
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© 2000  Volker J. Krüger, heim@thorn-wpr.de
letzte Aktualisierung: 30.07.2004